Julia Hamburg: Erwiderung auf die Regierungserklärung zur Bekämpfung der SARS-Cov2-Pandemie

- Es gilt das gesprochene Wort -

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,

die steigenden Infektionszahlen sind bedenklich und deshalb lassen Sie mich vorweg gleich eines klarstellen: Es muss jetzt gehandelt werden, um diese Entwicklung zu durchbrechen.

Ich bin froh, dass wir heute hier über diese Entwicklungen und die Auswirkungen des nahenden Teil-Lockdown sprechen. Das Parlament ist der Raum öffentlicher Debatten, aber: Er ist auch kein Selbstzweck. Er dient dazu, die massiven Auswirkungen der getroffenen Entscheidungen zu diskutieren und zu schauen, wie man die sozialen und wirtschaftlichen Härten dieses Lockdown abmildern kann.

Vor einigen Wochen noch diskutierten wir Lockerungen. Sie, Herr Ministerpräsident, sagten, dass Sie den Eindruck gewinnen, dass wir den Umgang mit dem Virus gelernt hätten und deshalb zu möglichst viel Normalität zurückkehren könnten.

Nun diskutieren wir wieder massive Einschränkungen und müssen uns die Frage stellen: Was heißt das für uns? Warum sind wir jetzt auf diesem Pfad? Haben wir etwa doch nicht gelernt und verinnerlicht, wie wir in Zeiten des Virus leben müssen? War AHA nicht griffig genug?

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir im Sommer verpasst haben, grundsätzlich für den Winter vorzusorgen. Ich weiß, dass Ihre Ministerien und auch die Kommunen seit März viel und weit über die Belastungsgrenze hinaus gearbeitet haben. Und dennoch stellen sich viele Menschen – und auch ich – die Frage, warum die Infektionsatempause nicht für ganz grundlegende Vorsorge genutzt wurde.

Wir haben früh gesagt: Es braucht nicht nur ein Lockerungskonzept, es braucht auch ein Konzept für steigende Infektionszahlen? Ihre Entgegnung: Prinzip Hoffnung!

Die Beteiligung der Parlamente hätte viel früher und unserer Meinung nach grundsätzlicher stattfinden müssen. Bei der Tiefe der Eingriffe und mit dem Wissen, dass das Virus uns länger begleiten wird, hätten wir auch gesetzliche Grundlagen für diese Pandemie entwickeln müssen. Das Parlament hier außen vor zu lassen, ist ein sträflicher Fehler.

Auch die Einbeziehung von Praktikern und Verbänden ist immer noch nicht strukturiert der Fall. Und es ist mir ein Rätsel: Gerade für die Akzeptanz der Maßnahmen ist es entscheidend, dass Förderprogramme und auch Verordnungen mit der Realität zu vereinen sind. Und dass diejenigen, die es umsetzen, frühestmöglich wissen, was sie eigentlich umsetzen sollen. Hier, Herr Ministerpräsident, ist immer noch viel Luft nach oben.

Aber auch die Umsetzung kluger Lüftungskonzepte lässt auf sich warten. Dabei ist Lüften das A und O zur Infektionsvermeidung. Davon wollten Sie im Sommer noch nichts hören. Die Unterstützung und Digitalisierung der Gesundheitsämter ist immer noch nicht erfolgt. Es freut mich zu hören, dass sie Landespersonal abstellen wollen, das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, denn: Das Nachverfolgen und Durchbrechen der Infektionsketten ist zur Bewältigung der Pandemie ein ganz entscheidender Baustein.

Seit Monaten stehe ich hier vorne und fordere Sie auf, die sozialen Härten dieser Pandemie mit zu bedenken. Herr Ministerpräsident, ich muss Ihnen deutlich sagen: Wir laufen auf den zweiten Lockdown zu und noch immer haben wir hier viel zu wenig Antworten, damit die Menschen, die der Lockdown besonders hart trifft, nicht durch das Raster fallen.

Nehmen wir die Kulturschaffenden, den Freizeit- und Veranstaltungsbereich, die Hotellerie und die Gastronomen. Erst wurden sie komplett geschlossen und mit Hartz IV abgespeist, dann haben sie monatelang an Hygienekonzepten gefeilt und gearbeitet. Jetzt durften sie endlich wieder loslegen – absolut unrentabel, mit halber oder viertel Besetzung, aber immerhin: Es ging bergauf. Einen Unternehmlohn gab es trotz der Einschränkungen nicht – in Niedersachsen gab es lediglich ein 10-Millionen-Euro-Programm, das an vielen Stellen nicht greift. Und jetzt? Kommt der nächste, politisch verordnete Querschlag. Und wieder droht die Szene durch das Raster zu fallen. Die Verzweiflung ist riesig – und das Gefühl, dass die Politik sie weder hört noch versteht ist mittlerweile noch viel größer!

Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Entschädigungsleistungen, auf die sich Bund und Länder verständigt haben sind richtig und sie sind ein erster Schritt. Aber: Unbürokratisch erscheinen sie schon mal nicht, wenn ein Anwalt oder Steuerberater sie glaubhaft machen soll. Und: was, wenn Kulturschaffende, Restaurants oder andere im November letzten Jahres keinen Umsatz erzielt haben? Weil es sie noch nicht gab? Oder weil sie im Sommer ein Projekt hatten und den Herbst damit überbrückten? Es darf nicht passieren, Herr Ministerpräsident, dass diese Maßnahme am Ende dann wieder nicht passgenau für die Vielfalt der Soloselbstständigen passt.

Und es darf auch nicht passieren, dass im Anschluss an den Lockdown dann kein Unternehmerlohn folgt und die Kulturschaffenden, der Eventbereich und die anderen danach nicht wieder zurückgeworfen werden. Wir reden hier über einen riesigen Wirtschaftsbereich, allein 100.000 Kulturschaffende haben wir in Niedersachsen. Diese Branche darf nicht länger durch das Raster fallen!

Aber auch über diesen Bereich hinaus trifft der Lockdown einzelne Personengruppen besonders hart: Suchtkranke und Menschen, die an Depressionen leiden beispielsweise. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen sicherstellen, dass wir den sozialen Bereich in dieser Zeit finanziell ausbauen und stärken, um gerade in der Pandemie die Strukturen zu sichern. Es ist mir unverständlich, wie sie die Landeszuschüsse für die Suchtberatung oder die Streichung der Zuschüsse für das Obdachlosenprojekt in Hannover in solchen Zeiten vornehmen konnten. Kürzungen oder wegschauen sind das vollkommen falsche Signal – da müssen wir beherzt gegensteuern, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Deshalb ist es auch entscheidend, den Kommunen bereits heute zu signalisieren, dass wir sie nicht nur personell, sondern auch finanziell im kommenden Jahr massiv unterstützen werden, damit die wichtige Arbeit der Frauenhäuser, Obdachlosenhilfe, Tafeln und Jugendarbeit – um nur einige Beispiele zu nennen – nicht unter den Tisch fällt.

Aber schauen wir uns die konkrete Verordnung an. Ich finde die Debatte, wie sie im Vorfeld des Gipfels geführt wurde toxisch: Es ist nicht der private Bereich schuld an dem jetzt stattfindenden Lockdown. Wir dürfen jetzt nicht den Finger erheben gegen all die Menschen, die sich in den letzten Wochen und Monaten massiv eingeschränkt haben. Viele Menschen haben sich um die Einhaltung der Hygienemaßnahmen sehr bemüht. Deshalb polarisieren Debatten um die Schleierfahndung diese Debatte auch auf eine Art und Weise, wie wir es nicht gebrauchen können.

Gleichzeitig verkennt diese Form der Debatte, dass wir von 75 Prozent der Infektionen gar nicht sagen können, wie sie entstanden sind und dass wir zumindest aus Niedersachsen doch auch wissen, dass es erhebliche Hotspots in Bereichen gab, wo Arbeitnehmerschutz eben nicht großgeschrieben wurde. Das muss sich für die Zukunft ebenso ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Also lassen Sie uns den Ernst der Lage durch nachvollziehbare und vorausschauende Maßnahmen deutlich machen – und nicht durch Alarmismus, Panikorchester und eine Law and Order Kultur, die wieder etwas bringt noch durchzusetzen wäre.

Was heißt das für die Verordnung die nun vor uns liegt: Herr Tonne, Sie kriegen als Kultusminister selten Lob für das, was sie tun. Aber heute möchte ich Sie loben! Seit Monaten fordere ich ein, klare Maßnahmen für Szenarien zu beschreiben. Dieser Forderung sind Sie mit der Regelung der Maskenpflicht und dem Eintreten ins Szenario B mit dieser Verordnung nachgekommen. Und auch den Risikogruppenschutz schreiben Sie seit dem Herbst größer. Das ist sehr zu begrüßen. Natürlich ersetzt das nicht, dass ich von Ihnen erwarte, dass Sie endlich auch die Schülerverkehre besser regeln, die Digitalisierung stärker vorangeht und dass unsere Schulen ein wirkliches Lüftungskonzept verdienen und nicht so ein ungenügendes 20:5:20-Modell. Hier müssen Sie weiter anpacken!

Aber leider sind in der Verordnung nicht alle Bereiche so nachvollziehbar gestaltet und Mahnungen, die ich Ihnen bereits im März und April beim ersten Lockdown mitgegeben habe, wurden nicht gehört: Warum schließen Sie Bibliotheken, wenn doch Geschäfte, in denen ich Bücher kaufen kann, geöffnet bleiben? Wenn Sie Kindern schon den ganzen Freizeitbereich nehmen, dann lassen Sie sie doch wenigstens Bücher leihen. Warum dürfen sich Kinder nicht in den Kohorten treffen, in denen sie in der Schule auch verkehren? Wie soll das jemand verstehen? Zusammen zu arbeiten oder in der Schule ohne Abstand zu sitzen ist kein Problem – aber wehe man trinkt dann noch ein Feierabendbier, macht einen Spaziergang oder verabredet sich nachmittags. Das ist unverständlich. Auch sollten wir doch nicht so tun, als wenn ein Treffen von 10 Menschen aus zwei Haushalten schlimmer wird, wenn die 11. Person noch dazukommt. Und dass Alleinstehende diskriminiert werden, indem sie keine gemeinsame Infektionsgemeinschaft mit drei oder vier Alleinstehenden bilden dürfen ist hahnebüchen. Auch gibt es keine klaren Regelungen für private Betreuungsgemeinschaften – diese werden im Lockdown aber eine entscheidende Rolle spielen. Hier müssen Sie nachbessern!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe bereits deutlich gemacht, dass wir darauf angewiesen sein werden, die Menschen im Land über die gesamte Pandemie mitzunehmen, weil der Erfolg der Maßnahmen von der Akzeptanz der Maßnahmen abhängt. Vorsorge und Perspektive sind hier das A und O! Bitte lassen Sie uns deshalb gemeinsam Perspektiven entwickeln, für ein Leben mit dem Virus. Wir dürfen den Menschen nicht nur erzählen, was nicht geht – sondern wir müssen bewerben und aufzeigen, was geht! Deshalb lassen Sie uns einen gesellschaftlichen Beirat gründen, um diese Perspektiven mit Beteiligten zu entwickeln. Und vor allem: Lassen Sie uns das Sondervermögen dafür einsetzen, Vereine, Initiativen, soziale Einrichtungen, den Handel und die Gastronomie – kurz, alles was Leben lebenswert macht und derzeit durch Corona massiv beeinträchtigt wird – neu zu denken und pandemiesicher aufzustellen. So viele Menschen haben sich auf den Weg gemacht sind kreativ geworden: Lassen Sie uns diese zarten Pflänzchen befördern und sichtbar machen, damit sie sich ausbreiten und Niedersachsen eine Perspektive geben.

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