Erwiderung auf die Regierungserklärung "Qualitätsschule für Niedersachsen ? Raus aus dem Pisa-Tal"
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Anrede,
Herr Minister Busemann, wenn man Sie hier vorne so reden hört, dann bekommt man eine Vorstellung davon, wie Sie wohl als Schüler waren.
Wahrscheinlich nicht superfleißig, aber durchaus talentiert.
Mit den Hausaufgaben werden Sie sich nicht lange aufgehalten haben, die konnte man morgens ja auch noch schnell irgendwo abkupfern.
Aber im Unterricht, da waren Sie bestimmt immer vorneweg. Immer einen flotten Spruch drauf. "Hoppla, jetzt komm’ ich!"
Grenzenloses Selbstbewusstsein bei tendenzieller Ahnungslosigkeit!
Das alles fällt mir ein, wenn ich höre, wie Sie die neuen OECD-Erkenntnisse mal eben so nebenbei als "langweilig und überflüssig" bezeichnen.
Dieses ewige Gequatsche der Wissenschaftler geht Ihnen auf den Keks.
Es reicht Ihnen, wenn Sie wissen, dass morgens die Sonne aufgeht und vor den Sommerferien die Zeugnisse verteilt werden.
Als Herkules in gebügelten Jeans marschieren Sie heute durch die niedersächsische Schullandschaft.
Dazu passt es, dass Sie die Abschaffung der Orientierungsstufe in Niedersachsen mit einer Mondlandung vergleichen und am ersten Schultag im Kultusministerium ein Lagezentrum aufbauen, das diese Landung steuern und kontrollieren sollte.
Die wirkliche Landung, die Landung auf dem Boden der Realität, werden wir in den nächsten Jahren erleben, wenn sich zeigt, wie viele Kinder im selektiven Schulsystem der CDU/FDP scheitern.
Die Behauptung, die Abschaffung der Orientierungsstufe sei die "größte Schulreform in der Geschichte Niedersachsens", ist nicht nur maßlos, sondern sie zeugt auch von bedenklicher schulpolitischer Einfalt.
Es kann doch nicht die Antwort auf PISA sein, zur Schulstruktur der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückzukehren!
Die PISA - Siegerländer haben diese Schulstruktur bereits vor Jahrzehnten abgeschafft. Mit der Rückkehr zu einer antiquierten Schulstruktur wird Niedersachsen bei PISA niemals erfolgreich abschneiden. So kommen wir aus dem Tal nicht heraus, Herr Minister!
Der Ministerpräsident war ja kürzlich in Finnland. Er ist voller Begeisterung zurückgekommen und hat Finnland sogleich zum politischen Vorbild für Deutschland erklärt. Es wäre besser gewesen, er hätte auch seinen Kultusminister mitgenommen, und die beiden hätten sich gemeinsam auch die Schulen in Finnland etwas genauer angesehen. Dann hätten sie sehen können, wie man wirklich aus dem PISA -Tal herauskommen kann.
Über den niedersächsischen Kurs in der Schulpolitik soll man sich dort übrigens sehr befremdet gezeigt haben, hört man. Aber davon hat der Ministerpräsident nach seiner Rückkehr lieber nichts erzählt.
Unserem Schulsystem hat PISA attestiert, dass es zu vielen Jugendlichen nur mangelhafte Kompetenzen vermittelt und zu wenige Jugendliche zu hohen Leistungen führt.
Vor allem aber hat PISA gezeigt, dass die soziale Selektion in den deutschen Schulen so hoch ist wie in sonst keinem anderen Land.
Sortiert wird in unserem Schulsystem nicht wirklich nach Begabungen, wie die CDU nicht müde wird zu behaupten, sondern sortiert wird letzten Endes nach der sozialen Herkunft.
Die PISA - Forscher führen diese Selektivität eindeutig auf die frühe Verteilung der Kinder auf institutionell getrennte Bildungsgänge zurück.
Aber was macht die schwarzgelbe Landesregierung?
Sie hebt nicht etwa die Selektion auf. Nein, sie verschärft sie noch.
Sie ignoriert penetrant alle wissenschaftlichen Erkenntnisse und Vergleichsstudien und verlegt die Trennung der Kinder nach vorn, auf einen noch früheren Zeitpunkt, nach Klasse 4.
Mit dieser nur ideologisch begründeten Entscheidung, meine Damen und Herren von CDU und FDP, verschenken Sie Begabungsreserven niedersächsischer Schülerinnen und Schüler.
Ihre Schulpolitik ist ohne jede Zukunftsfähigkeit – sie ist angesichts der künftigen Herausforderungen besonders vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung zum Scheitern verurteilt.
Die Eltern, Herr Minister, haben ja sehr deutlich gemacht, was sie von Ihrer Sortiererei halten!
Sie haben sich über die Schullaufbahnempfehlungen hinweggesetzt und ihre Kinder an einer höheren Schulform oder gleich an einer Gesamtschule angemeldet, um Bildungschancen länger offen zu halten.
Ein Drittel der Eltern, für deren Kind die Hauptschule empfohlen worden ist, hat sich geweigert, dieser Empfehlung zu folgen.
Auf der anderen Seite sind an den Gymnasien ein Fünftel mehr Kinder angemeldet worden als empfohlen.
Und auch die Gesamtschulen haben weiter steigende Anmeldezahlen.
Trotz größerer Klassen mussten sie noch mehr Kinder abweisen als im vorigen Schuljahr.
Aber davon will der Kultusminister schon gar nichts mehr wissen.
Die Anmeldezahlen an den Gesamtschulen lässt er am liebsten aus seinen Statistiken gleich ganz heraus. Auch in seiner Rede hat er sie wohlweislich wieder unterschlagen.
Sie wissen genau, Herr Minister, das Wahlverhalten vieler Eltern zeigt, dass Ihre Politik der frühen Trennung und Sortierung nicht akzeptiert wird!
Eltern wissen doch, dass die Hauptschule heute eine Sackgasse für ihr Kind ist.
Und das liegt nicht an den Hauptschulen oder den Kolleginnen und Kollegen dort.
In vielen Hauptschulen wird eine hochprofessionelle, sehr anspruchsvolle pädagogische Arbeit geleistet.
Die PISA-Forscher haben es sehr deutlich formuliert:
Wenn in der Hauptschule die Leistungsschwächeren unter sich bleiben und wenn auch das Anforderungsniveau entsprechend herabgeschraubt wird, dann fehlen einfach die Herausforderungen, die nötig sind, um die Potenziale aller Kinder voll ausschöpfen zu können.
Mit dem Programm, das der Kultusminister als "Stärkung der Hauptschulen" verkauft, werden die Hauptschülerinnen und Hauptschüler noch mehr abgekoppelt.
Die Unterrichtsstunden werden um fast 20% gekürzt.
Stattdessen sollen die HauptschülerInnen an 60 bis 80 Schultagen Praktika in Betrieben ableisten, Praktika, für die es kein pädagogisches Konzept gibt und die an zahlreichen Standorten realistisch gar nicht durchzuführen sein werden.
Gleichzeitig werden die Lehrerstunden gekürzt, die für Unterricht in Arbeit/Wirtschaft/Technik notwendig sind.
Diese Stundenkürzung wird es den Hauptschülerinnen und Hauptschülern weiter erschweren, noch zu einem erweiterten Schulabschluss zu kommen; zum Beispiel in der 10. Klasse den Realschulabschluss zu erwerben.
Anrede,
10% aller Jugendlichen erreichen heute in Niedersachsen nicht einmal einen Hauptschulabschluss.
Das ist eine Zahl, die an sich schon ein Skandal ist und die sich unsere Gesellschaft überhaupt nicht leisten kann.
Die Schulpolitik der Landesregierung wird sich daran messen lassen müssen, ob es ihr gelingt, diese skandalös hohe Zahl von Jugendlichen, die in der Schule scheitern, zu senken. Bislang sehen wir keine Erfolg versprechenden Konzepte dafür.
Ganz besonders betroffen sind die Kinder und Jugendlichen ausländischer Herkunft. PISA hat uns vor Augen geführt, dass unsere Schule jahrzehntelang diese Kinder vernachlässigt hat.
Und auch das können wir uns nicht länger leisten, denn wir brauchen in den nächsten Jahren alle qualifizierten Arbeitskräfte angesichts der zurückgehenden Zahlen an Menschen im erwerbsfähigen Alter.
Der Kultusminister behauptet, dass er mit der Sprachförderung mehr für die Migrantenkinder tut.
Tatsächlich führt er nur einige Programme der Vorgängerregierung fort. Und selbst diese Sprachförderprogramme, die schon bei der Vorgängerregierung zu mager ausfielen, hat er noch weiter gekürzt.
Die Hausaufgabenhilfe hat er sogar ganz gestrichen. Auch hier also: Große Worte, große Show, aber keine eigene Idee!
Und auch die Kindertagesstätten werden von Minister Busemann weiter vernachlässigt. In ihren Sonntagsreden haben CDU-Bildungspolitiker die Bedeutung der Kitas für die Bildung und Entwicklung der Kinder entdeckt, aber in der Praxis tut sich nichts außer einem Orientierungsplan ohne Verbindlichkeit.
Hier läge in der Tat eine Herkulesaufgabe für den Kultusminister. Der Bildungsauftrag, die Qualität der Kitas und die Ausbildung der ErzieherInnen sind so zu verbessern, dass sie europäische Standards erreichen.
Aber an dieser Stelle hat ihn offenbar die Kraft schon verlassen. Erst recht ist keine Rede mehr vom kostenlosen Kita-Jahr für 5-jährige!
Anrede,
die konservative Schulpolitik setzt besonders darauf, dass wenigstens die Gymnasien besonders gute Leistungen erbringen können, wenn dort die "guten" Schüler unter sich sind.
Auch diese Illusion wurde durch die PISA -Studie gründlich zerstört.
Die Leistungen der deutschen GymnasiastInnen sind keineswegs besser als die der schwedischen und finnischen SchülerInnen.
Der PISA -Bericht schreibt uns deutlich ins Stammbuch:
"Die Sicherung von Mindeststandards ist keine Frage der Selektivität, sondern eine Frage der Förderung und des professionellen Umgangs mit Leistungsheterogenität im Unterricht."
Es ist doch nur schlichte Propaganda, wenn Minister Busemann uns seine antiquierte Schulstruktur heute erneut als "Qualitätsschule" verkaufen will und ernsthaft behauptet, damit aus dem PISA -Tal herauszukommen.
Durch ständige Wiederholung wird dies auch nicht richtiger, Herr Minister.
Sie wissen doch genau, was die neueste OECD – Studie für Ihre schulpolitischen Weichenstellungen bedeutet. Sie sind mit Ihrer Schulpolitik auf dem falschen Weg. Aber für Sie sind Studien und internationale Vergleiche ja langweilig, ermüdend und überflüssig.
Anrede,
in den letzten Tagen hat der Organisator der PISA -Studien, Andreas Schleicher, beklagt, dass die Kultusminister in Deutschland einer Debatte über eine grundlegende Reform des Schulwesens noch immer ausweichen. Was Sie, Minister Busemann betrifft, hat er damit mehr als Recht!
Und Andreas Schleicher hat davor gewarnt, dass die deutschen Schulen den Anschluss an andere Länder noch mehr verlieren werden. Wenn im Spätherbst die nächste PISA -Studie vorgestellt wird, müssen wir damit rechnen, dass das gegliederte deutsche Schulsystem erneut sehr schlecht abschneiden wird.
Da fragt man sich manchmal wirklich, wie es um die Lesekompetenz des Kultusministers eigentlich bestellt ist. Oder hat er die PISA – Studien vielleicht gar nicht gelesen? Nein, seit gestern wissen wir ja, er will sie gar nicht lesen!
Anrede,
wir brauchen keine frühere Selektion und auch keine höheren Hürden beim Abitur. Wir brauchen Förderung für alle Kinder in allen Schulen.
Wir brauchen einen differenzierenden Unterricht, der wirklich auf die Verschiedenheit der Kinder eingeht.
Auch das hat Andreas Schleicher erneut betont.
Er hat gefordert, dass die Lehrerausbildung entsprechend reformiert werden muss. Aber auch dazu kommen von der Landesregierung bislang keine Vorschläge.
Sie verspricht mehr Durchlässigkeit zwischen den Schulformen, tatsächlich wird es nur mehr Durchlässigkeit nach unten geben.
Schon jetzt müssen in Niedersachsen fast 10% der Kinder im Laufe ihrer Schulzeit eine Abschulung verkraften.
Bisher hat der Kultusminister kein Konzept vorgelegt, wie diese Zahl verringert werden kann.
Im neuen Schuljahr besuchen 40,7 % der Schülerinnen und Schüler im 5. Schuljahrgang ein Gymnasium.
Das sind 7% mehr als ein Jahr zuvor in die Eingangsklasse des Gymnasiums gegangen sind.
Eigentlich ist das eine sehr erfreuliche Entwicklung, weil wir mehr hoch qualifizierte Schülerinnen und Schüler brauchen.
Aber die Landesregierung hat die Schulen auf diese Entwicklung nicht vorbereitet.
Sie hat auch hier kein Konzept, wie die Gymnasien mit der größer werdenden Heterogenität ihrer Schülerschaft umgehen sollen. Förderressourcen sind dafür nicht vorgesehen.
Es ist zu befürchten, dass die meisten Gymnasien viele ihrer neuen Kinder schon in den ersten zwei Jahren wieder aussortieren werden.
Der Kultusminister will die Realität offenbar nicht wahrnehmen und nicht wahrhaben, dass immer mehr Eltern einen höheren Bildungsgang für ihr Kind wollen.
Er redet noch immer davon, Niedersachsen sei ein Realschulland, obwohl im neuen 5. Jahrgang inzwischen deutlich mehr Kinder auf das Gymnasium gehen als auf die Realschule.
Zum dramatischen Rückgang der Anmeldungen an den Hauptschulen fällt ihm schon gar nichts mehr ein.
Offenbar hofft der Kultusminister noch darauf, die Realität in seinem Sinne manipulieren zu können.
In Dienstbesprechungen werden Grundschullehrkräfte bereits dazu aufgefordert, in Zukunft bei den Schullaufbahnempfehlungen "realistischer" zu sein.
Sprich: sie sollen weniger Kinder für das Gymnasium und mehr für die Hauptschule empfehlen.
Man fragt sich, was daran realistischer sein soll?
Realistisch sind die Eltern, die genau wissen, dass ihre Kinder nur mit einem möglichst hohen Schulabschluss eine Chance auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt haben.
Die FDP geht jetzt noch einen Schritt weiter als der Minister. Sie will die freie Elternentscheidung gleich ganz abschaffen. Das ist es also, was wir heute unter liberal verstehen sollen.
Es ist aber nicht die Aufgabe der Schule, Kinder auszusortieren, sondern es ist ihre Aufgabe, allen Schülerinnen und Schülern die nötigen Qualifikationen zu vermitteln, die sie auf dem Arbeitsmarkt der Zukunft brauchen. Die Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Frau Prof. Allmendingen, hat heute in der Presse erneut erklärt, dass dies in der überkommenen dreigliedrigen Schule nicht möglich ist.
Dass es in einer anderen Schule aber sehr wohl möglich ist, haben uns Finnland und Schweden deutlich gezeigt. Warum nicht in der Schulpolitik von Finnland lernen, Herr Ministerpräsident. Aber Herr Busemann meint ja, wir sollten nicht ins Ausland gucken, sein Horizont reicht über die Grenzen von Niedersachsen nicht hinaus.
Herr Busemann, Sie haben Ihre vielen Zahlen auch mit einigen Zitaten garniert. Nun gut. Auch wir wissen, wie man die Suchmaschinen im Internet bedient. Hören Sie mal, was für ein passendes Luther-Zitat wir heute für Ihre Regierungserklärung gefunden haben: "Ihr könnt predigen, über was ihr wollt, aber predigt niemals über vierzig Minuten."
Meine Damen und Herren,
die Bewährungsprobe der schwarzgelben Schulstrukturreform fand nicht am 19. August statt.
Die Bewährungsprobe wird erst kommen, wenn sich zeigt, wie viele Schülerinnen und Schüler in diesem System erfolgreich sind und wie viele scheitern.
Ich fürchte, das PISA – Tal wird in Niedersachsen noch tiefer werden.