Antrag: Stellungnahme des Niedersächsischen Landtags zum Grünbuch „Migration und Mobilität“

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag begrüßt,

dass die Europäische Kommission das Grünbuch "Migration und Mobilität: Chancen und Herausforderungen für die EU-Bildungssysteme" vorgelegt hat. Der Landtag stimmt mit der Zielsetzung überein, die EU-Bildungssysteme durchlässiger zu gestalten, um die Risiken abzuwehren, dass mangelnde Bildungschancen von Migrantenkindern zu einer Vertiefung sozialer Gräben innerhalb und zwischen den Mitgliedsstaaten der EU führen und über Generationen hinweg zu kultureller Segregation, Ausgrenzung von Gemeinschaften und interethnischen Konflikten führen. Es ist bekannt und durch verschiedene Studien wie etwa die PISA-Studie belegt, dass in den einzelnen Mitgliedsstaaten die Bildungssysteme zu einer unterschiedlich ausgeprägten Selektion führen, die nicht nur im Interesse des Mitgliedsstaates überwunden werden muss, sondern auch massiv den weiteren europäischen Integrationsprozess und auch Ziele wie die Umsetzung des Lissabonvertrages behindert. Auch in Deutschland und in Niedersachsen führt diese Selektion durch das Bildungssystem zu einer unzureichenden Integration von Familien mit Migrationshintergrund, insbesondere von Kindern aus bildungsfernen und sozio-ökonomisch schlechter gestellten Elternhäusern.

Der Landtag stellt fest, dass das deutsche Bildungssystem auf die steigende Migration aus Mitgliedsstaaten und die Zunahme der Wanderarbeiter mit der Einrichtung neuer internationaler Schulen in Großstädten reagiert hat. Die verbreitete allgemeine Unzufriedenheit mit dem Bildungssystem führt auch zu steigenden Neugründungen von Privatschulen und Privatuniversitäten. In den letzten Jahren schicken auch Familien mit Migrationshintergrund und hoher Bildungs- und soziokultureller Kompetenz ihre Kinder auf private öffentliche Schulen, weil sie dort eine bessere individuelle Förderung erfahren, die Bildungsansprüche der Eltern von diesen Schulen eher erfüllt werden, private flexibler als viele staatliche Bildungseinrichtungen auf neue Anforderungen reagieren.

Bei den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, die die Chance haben, eine Arbeitsstelle in einem Mitgliedsstaat anzunehmen, besteht jedoch immer noch eine große Unsicherheit, ob eine Integration in einem Nachbarland gelingt und mit welchen Unsicherheiten eine – auch nur zeitlich befristete – Umsiedlung behaftet ist. Die Motivation des Landtags zu diesem Grünbuch Stellung zu nehmen ist auch darin begründet, einen Beitrag dazu zu leisten, die Zukunftschancen unserer Bürgerinnen und Bürger in Niedersachsen positiv mit zu beeinflussen, wenn sie ihren Lebensmittelpunkt in ein anderes Land innerhalb der EU verlegen wollen oder müssen.

  • A. Politische Herausforderung

Die Verbesserung der Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund ist von herausragender Bedeutung in einer zunehmend vielfältiger und multikultureller werdenden Gesellschaft. Vor allem durch die Zuwanderung von Drittstaatsangehörigen in die EU und die erhöhte interne Mobilität durch die beiden jüngsten Erweiterungsrunden sind die Anforderungen an die EU-Bildungssysteme enorm gestiegen. Dazu kommt, dass in Deutschland, wie in anderen Mitgliedsstaaten auch, in den vergangenen Jahrzehnten die Zahl der eingebürgerten Zuwanderer aus Drittstaaten erheblich zugenommen hat. Migration erfolgt zunehmend nicht nur einseitig in Richtung Deutschland und Niedersachsen, sondern immer mehr unserer Bürgerinnen und Bürger finden einen Arbeitsplatz in einem Mitgliedsstaat, werden dort zu Migranten, die ebenfalls eine besondere Unterstützung bei der Integration im Gastland bedürfen. Die interkulturelle Öffnung und Durchlässigkeit des Bildungswesens innerhalb der EU sollte deshalb höchste Priorität genießen.

  • B.Politische Antworten

Die Integration und Mobilität von Kindern mit Migrationshintergrund muss erleichtert werden. Dazu sollte für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund ein EU-weiter Anspruch auf Betreuung und Förderung in vorschulischen Einrichtungen und allen weiteren Bildungseinrichtungen festgeschrieben werden. Es darf nicht hingenommen werden, dass die vielfältigen Potenziale und Fähigkeiten von Migrantenkindern weniger gefördert werden, als die der Kinder und Jugendlichen des Gastlandes.

1. Frühkindliche Sprachentwicklung ausbauen

Die allgemeine Bildungsentwicklung ist durch eine frühzeitige Sprachentwicklung in den Kindertagesstätten zu fördern. Vor allem Kinder mit Migrationshintergrund profitieren von der frühkindlichen Sprachentwicklung, weil Sprachdefizite frühzeitig erkannt und verbessert werden können. Dies führt zu mehr Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit. Diese Ziele sind dadurch zu erreichen, dass

  • alle Kinder mit und ohne Migrationshintergrund in der frühkindlichen Sprachentwicklung gefördert werden. Migrantenkinder eine obligatorische Förderung zum Erlernen der Sprache des Zuwanderungslandes erhalten;
  • ein Rechtsanspruch aller Kinder auf einen Ganztags-Kitaplatz in allen Mitgliedsstaaten eingeführt wird.

2.Individuelle Förderung aller Schüler und Schülerinnen

Alle Schülerinnen und Schüler haben ein Recht auf Bildung und Chancengleichheit. Vor allem muss oberstes Ziel sein, die starke Korrelation zwischen Bildungschancen und sozioökonomischen Status zu durchbrechen, um die strukturelle Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu beseitigen.

3. Befähigung zum "Lebenslangen Lernen"

Im Zeitalter der Informations- und Wissensgesellschaft ist die Vermittlung der Kompetenzen für ein Lebenslanges Lernen von immenser Bedeutung. Diese Fähigkeit eröffnet Chancen für das ganze Leben. Zur Umsetzung stehen in den Bildungssystemen der Mitgliedstaaten eine Vielzahl erprobter pädagogischer Instrumente und Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Ziel muss es sein, die Benachteiligung bei den Ausbildungschancen und der beruflichen Integration im Zuwanderungsland zu beseitigen. Ein Bildungssystem, das Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenzen gezielt fördert und die Potenziale der Zuwanderer entwickelt, erhöht die Zukunftschancen für Menschen und Wirtschaft.

4. Verbesserung der interkulturellen Verständigung und Austausch

Die Bildungssysteme der Mitgliedsstaaten müssen so ausgestaltet sein, dass sie einen Beitrag zum gesellschaftlichen Dialog zwischen den Kulturen leisten und so die Integration befördern. Dazu gehört eine Zusammenarbeit zwischen Bildungseinrichtungen, die die besonderen Belange von Migranten berücksichtigt, um die Chancen von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu verbessern. Der interkulturelle Dialog zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund ermöglicht ebenfalls die Freisetzung ungeahnter Potenziale und sozialer Kompetenz. Diese Ziele sind dadurch zu erreichen, dass

  • ausreichend Erzieher und Lehrkräfte mit Migrationshintergrund eingesetzt und ausgebildet werden, um die interkulturelle Verständigung innerhalb der Bildungseinrichtungen mit dem Ziel Integration zu erleichtern und gleichzeitig sicherzustellen, dass den Kindern und Jugendlichen Grundkenntnisse der Sprache und Kultur ihres Herkunftslandes vermittelt werden.
  • C.Rolle der Europäischen Union

Die Kommission sollte eine Plattform zur EU-weiten Vernetzung von Angeboten der Hochschulausbildung anbieten, die in den Mitgliedsstaaten entwickelt werden, um den Austausch von Kompetenz der jeweiligen nationalen Bildungssysteme zur Bewältigung von Integrationshindernissen voranzubringen. Die Pisa-Diskussion kann den Ausgangspunkt bilden, um

Instrumente wie Pisa und andere verstärkt zu nutzen, um den Fortschritt bei der Integration von Migranten und besonders der Kinder und Jugendlichen zu beobachten und im Ländervergleich darzustellen.

Das Programm der Europäischen Kommission "Lebenslanges Lernen" sollte in vollem Umfang weitergeführt werden und mit zusätzlichen Mitteln ausgestattet werden. Eine  Bindung der Mittelvergabe an die Umsetzung regionaler Bildungskonzepte, die in besonderer Weise die Integration von Migrantenkindern und sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher berücksichtigen, ist anzustreben. Dadurch kann die Umsetzung der Empfehlungen des Europäischen Rates vom 18. Dezember 2006 über "Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen" befördert werden.

Die Kommission sollte ein besonderes Augenmerk auf die Situation im Bereich der beruflichen Bildung legen. In diesem Bildungssektor unterscheiden sich die Bildungssysteme der Mitgliedsstaaten besonders stark. Es ist davon auszugehen, dass in diesem Bildungssektor Hindernisse vorhanden sind, die die Integration von Migranten beeinträchtigen können und für junge Menschen in Berufsausbildung oder nach Abschluss der Berufsausbildung ein Mobilitätshindernis innerhalb des EU-Raums darstellen.

Die europäischen Freiwilligen Programme und Programme des Jugendaustauschs sollten nicht nur fortgeführt, sondern verstärkt werden. Sie können einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass junge Menschen Sprachkompetenz und interkulturelle Kompetenzen außerhalb der Bildungssysteme erwerben. Die Programme sollten verstärkt darauf ausgerichtet werden, dass die Teilnahme von jungen Erwachsenen in Berufsausbildung und nach Abschluss der Berufsausbildung erleichtert wird. Junge Erwachsene aus bildungsfernen Bevölkerungskreisen oder aus einem schwierigen sozialen Umfeld nehmen diese Möglichkeiten bisher zu wenig wahr.

  • D.Zukunft der Richtlinie 77/486/EWG

Der Landtag schlägt vor, die Richtlinie 77/486/EWG der Entwicklung der Migrationsströme und der Tatsache, dass die EU ein Einwanderungsraum ist, anzupassen und dabei

  1. den Anspruch jedes EU-Bürgers auf integrative Bildungsangebote in jedem Mitgliedsstaat beizubehalten und darüber hinaus Ansprüche auf integrative Bildungsangebote für Migranten aus Drittstaaten festlegt. Dabei sollen auf EU-Ebene Ziele verbindlich festgelegt werden und es soll den Mitgliedstaaten überlassen werden, welche Instrumente innerhalb ihrer Bildungssysteme eingesetzt werden, um die Ziele zu erreichen,
  2. das Problem der Wanderarbeit innerhalb des EU-Raums insofern besonders zu berücksichtigen, dass Bildungsangebote in einem Mitgliedsland für zeitlich befristet beschäftigte Arbeitnehmer und Angestellte vorgehalten werden, die eine Teilnahme am sozialen und gesellschaftlichen Leben im Gastland ermöglichen,
  3. die Situation von Migranten durch besondere Angebote in ihren Bildungssystemen berücksichtigen, die als Flüchtlinge/Asylbewerber in einem Mitgliedsstaat aufgenommen werden und aus politischen, weltanschaulichen oder anderen Gründen keine sichere Perspektive zur Rückkehr in ihr Herkunftsland haben, während der Zeit ihres Aufenthalts im EU-Raum jedoch die kulturelle Identität ihres Herkunftslandes bewahren wollen.

Fraktionsvorsitzender

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