Antrag: Stärkung der Inklusion – Entwicklung der Tagesbildungsstätten unterstützen

Fraktion der SPD
Fraktion Bündnis 90 Die Grünen
Fraktion der CDU

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Mit der Unterzeichnung der „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (UN-BRK) am 30. März 2007 -Behindertenrechtskonvention- und der Ratifizierung als Bundesgesetz im Jahr 2009 (BGBl. II 2009 S. 812 ff.) hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, Menschen mit Behinderungen eine volle und gleichberechtigte Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen zu ermöglichen (Art. 1 - UN-BRK). Das schließt ausdrücklich das Recht auf Bildung ein. Nach Art. 24 UN-BRK haben die Vertragsstaaten sich verpflichtet, den Menschen mit Behinderungen einen diskriminierungsfreien Zugang zum Bildungssystem zu ermöglichen sowie „ein integratives (englisch: „inclusive“) Bildungssystem auf allen Ebenen“ zu gewährleisten. Dazu müssen sie den „Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen“ sicherstellen. Hierzu gehört auch, ein gemeinsames, inklusives Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung zu ermöglichen. Mit dem Gesetz zur Einführung der inklusiven Schule vom 23. März 2012 (Nds. GVBl. S. 34) ist in Niedersachsen der schulische Teil der Behindertenrechtskonvention im niedersächsischen Schulrecht umgesetzt worden. Demnach sind alle Schulen inklusive Schulen.

Der Begriff „Inklusion“ steht für den Paradigmenwechsel vom staatlichen Fürsorgeprinzip hin zum Recht auf umfassende und uneingeschränkte Teilhabe jedes einzelnen Menschen am gesellschaftlichen Leben.

Die Weiterentwicklung zur inklusiven Schule wurde in Niedersachsen im Sinne des von der Behindertenrechtskonvention zugelassenen „progressiven Realisierungsvorbehalts“ jahrgangsweise aufsteigend und mit dem Schuljahresbeginn 2013/2014, beginnend mit den Schuljahrgängen 1 und 5 verbindlich eingeführt. Um die Inklusion vor Ort weiterzuentwickeln und regionale Strukturen zu berücksichtigen, hat die Landesregierung landesweit in allen Landkreisen, kreisfreien Städten und der Region Hannover „Regionale Beratungs- und Unterstützungszentren Inklusive Schule“ (RZI) eingerichtet, die Schulen und Studienseminare, schulisches Personal, Erziehungsberechtigte, Schülerinnen und Schüler und Schulträger in Bezug auf die Umsetzung der inklusiven schulischen Bildung beraten und deren Aufgabe es ist, Regionale Inklusionskonzepte auf Grundlage landesweiter Standards und Rahmenvorgaben mit den Akteurinnen und Akteuren vor Ort zu entwickeln.

Bei der Entwicklung regionaler Inklusionskonzepte sind auch die Lernorte für Schülerinnen und Schüler mit einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zu berücksichtigen. In Niedersachsen ist neben der inklusiven Beschulung an allgemein bildenden Schulen und Förderschulen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung der Besuch von Tagesbildungsstätten (TBST) möglich. Die Tagesbildungsstätten sind in den 1960er Jahren aus Initiativen der Eltern- und Betroffenenbewegung hervorgegangen, um Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen die Teilhabe an einem schulischen Bildungsangebot zu ermöglichen. Die pädagogischen und inhaltlichen Angebote orientieren sich grundsätzlich am Kerncurriculum für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. In ihnen ist überwiegend Personal ohne Lehramtsqualifikation tätig. Nach Angaben des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung vom 19.03.2021 (Niedersächsischer Landtag Drucksache 18/8837) gibt es aktuell 76 anerkannte Tagesbildungsstätten (inklusive Außenstellen und Kooperationsklassen) als teilstationäre Einrichtung der Eingliederungshilfe von Trägern der Wohlfahrtsverbände betrieben.

Vor diesem Hintergrund begrüßen wir:

  • Die fraktionsübergreifende Entschließung „Umsetzung der Inklusion an Niedersachsens Schulen verbessern“, mit der der Niedersächsische Landtag bereits in der 18. Legislaturperiode den Grundstein für die Weiterentwicklung einer inklusiven Bildung gelegt, die Verbesserung der Rahmenbedingungen und eine wirksame Unterstützung der Schulen gefordert sowie die Notwendigkeit einer verlässlichen Richtung und Planungssicherheit betont hat.
  • Den landesweiten Ausbau der Einrichtung der Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren Inklusive Bildung (RZI) zur Mitwirkung an der Entwicklung von regionalen Inklusionskonzepten in den kreisfreien Städten, Landkreisen und der Region Hannover.
  • Die kooperativen Schulmodelle der Tagesbildungsstätten zur Mitgestaltung inklusiver regionaler Strukturen mit Schulen in staatlicher Trägerschaft.
  • Die Berufung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Tagesbildungsstätten in die Kommissionen zur Entwicklung von Kerncurricula für den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung und die Beteiligung an der Formulierung der Kerninhalte des Unterrichts in diesem Förderschwerpunkt.

Der Landtag bittet die Landesregierung:

  1. Die Klärung der Zuständigkeit, der Weiterentwicklung und der Finanzierung mit den kommunalen Spitzenverbänden vorzunehmen und dabei die verschiedenen Wege und Möglichkeiten auch des öffentlichen und freien Schulwesens einschließlich der Eingliederungshilfe und Finanzhilfe in den Blick zu nehmen.
  2. Ein Entwicklungsszenario mit einem Zeitplan zu entwerfen, um lokale und regionale Konzepte zur Entwicklung von Tagesbildungsstätten zu erarbeiten und dabei insbesondere aufzuzeigen, wie diese bedarfsorientiert, regional angepasst und schrittweise zu einer Schule umgewandelt werden können. Hierbei sind mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler die Angebote der Schulen in Kombination mit den Möglichkeiten der Eingliederungshilfe und der kommunalen Angebote zusammenzudenken, um ein gutes Angebot zu erhalten. Die Umgestaltung soll unter Berücksichtigung lokaler und regionaler Strukturen und Rahmenbedingungen erfolgen.
  3. Einen angemessenen Zeitplan für den Entwicklungsprozess unter Einbeziehung von inklusiven Strukturen zu entwerfen. Ziel ist eine bedarfsgerechte Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit einem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung an allen Orten der schulischen Bildung.
  4. In Zusammenarbeit mit den Kommunen Anerkennungsmöglichkeiten und Weiterqualifizierungsmöglichkeiten für das an den Tagesbildungsstätten tätige Personal zu entwickeln und durchzuführen, so dass dieses vor Ort im Sinne eines multiprofessionellen Ansatzes weiterbeschäftigt werden kann. Darüber hinaus sollen individuelle Perspektiven für das Leitungspersonal der Tagesbildungsstätten aufgezeigt werden.
  5. In Zusammenarbeit mit den Kommunen gleichrangige Betreuungsmöglichkeiten ergänzend zur Beschulung der Schülerinnen und Schüler im ganztägigen Unterricht der Förderschule mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung zu gestalten. Neben dem Erhalt des Personals (Punkt 4) gilt es die Betreuungsmöglichkeiten in den Schulferien sicherzustellen. Insbesondere gilt es zu prüfen, wie die Anzahl der Schließungstage in Bezug auf den damit verbundenen Personal- und Sachaufwand und die Unterschiede in der Betreuung der Schülerinnen und Schüler sichergestellt werden kann. 
  6. Zur Unterstützung und Begleitung des Prozesses regionale Planungsgruppen mit allen beteiligten Akteurinnen und Akteuren einzurichten. Dazu können die Schulträger beim jeweiligen Regionalen Landesamt für Schule und Bildung (RLSB) eine Interessenbekundung abgeben. Zur Gesamtkoordination sollte im Kultusministerium eine Lenkungsgruppe unter Einbeziehung der Kommunalen Spitzenverbände gebildet werden, die den Prozess steuert und an der sich das Sozialministerium im Rahmen seiner Zuständigkeiten beteiligt.

Begründung:

Die UN-Behindertenrechtskonvention verfolgt den Zweck, „die volle und gleichberechtigte Ausübung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung ihrer angeborenen Würde zu fördern.“ (Artikel 1). Gleichwohl ist die Umsetzung der Inklusion in der Schule ein schwieriger und langwieriger Prozess. Die Rahmenbedingungen für diesen Prozess müssen ständig weiterentwickelt werden.

Niedersachsen ist das einzige Bundesland mit Tagesbildungsstätten. Die regionale Verteilung ist sehr unterschiedlich. Derzeit erfüllen ca. 3 000 Kinder und Jugendliche mit einem festgestellten Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ihre Schulpflicht in anerkannten Tagesbildungsstätten in unterschiedlicher Trägerschaft. So gibt es im Zuständigkeitsbereich des RLSB Braunschweig 7 TBST mit rd. 400 Kindern und Jugendlichen, im Zuständigkeitsbereich des RLSB Hannover 10 TBST mit rd. 430 Kindern und Jugendlichen, im Zuständigkeitsbereich des RLSB Lüneburg 8 TBST mit rd. 630 Kindern und Jugendlichen sowie im Zuständigkeitsbereich des RLSB Osnabrück 16 TBST mit rd. 1140 Kindern und Jugendlichen. Eltern werden außerdem dadurch entlastet, dass Tagesbildungsstätten längere Betreuungszeiten bieten und nur an vier Wochen pro Schuljahr Schließzeiten haben. Dennoch sind TBST nicht vergleichbar z.B. mit einer öffentlichen staatlichen Förderschule oder einer Schule in freier Trägerschaft.

Initiativen zur Umwandlung der Tagesbildungsstätten in Förderschulen und die Entwicklung in Richtung inklusiver schulischer Angebote sind von verschiedenen Seiten, einschließlich von Trägern der Tagesbildungsstätten, ergriffen worden, ohne bislang zu einer konzeptionellen Planung und Gestaltung eines entsprechenden Transformationsprozesses geführt zu haben.

Zu den Tagesbildungsstätten wird beispielsweise im Aktionsplan Inklusion 2019/2020 für ein barrierefreies Niedersachsen, auf den in nachfolgenden Aktionsplänen in Bezug auf die TBST verwiesen wird, als Maßnahme eine „Konzeptentwicklung zur Umwandlung von Tagesbildungsstätten in Schulen“ aufgeführt (Aktionsplan Inklusion 2019/2020  für ein barrierefreies Niedersachsen – Schritte zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Punkt 4.2.15. S.27).

Die Tagesbildungsstätten wurden bis zum 31.12.2019 im Rahmen von Eingliederungsmaßnahmen aus dem Etat des Sozialministeriums finanziert. Im Rahmen der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes wechselte die Zuständigkeit zum 01.01.2020 an die örtlichen Träger der Eingliederungshilfe (Landkreise und kreisfreie Städte sowie Region Hannover). Das Vorhandensein von Tagesbildungsstätten führte bei einigen Schulträgern, die nach § 101 Abs. 1 NSchG für ihr Gebiet das notwendige Schulangebot und die erforderlichen Schulanlagen vorzuhalten, dazu, dass keine weitere Schulentwicklung in Form von Förderschulen oder inklusiven Schulen stattgefunden hat. Dies ist insbesondere im ländlichen Raum hervorzuheben, da sich für Eltern neben inklusiven Schulen keine weitere Möglichkeit bietet, für ihre Kinder ein verlässliches Angebot zur Förderung, Bildung und Betreuung zur Erfüllung der Schulpflicht zu wählen. Insbesondere die Verzahnung von Pflege und Betreuung mit Bildungsaspekten, sowie die verlängerte und verlässliche Betreuungszeit ist für Eltern von Kindern mit komplexen Behinderungen ein ansprechendes Angebot. Bisher wurden Tagesbildungsstätten vollständig von den Kommunen finanziert, aber Gerichtsurteile haben diese Praxis in Frage gestellt (BSG, Urteil vom 21.09.2017, B 8 SO 24/15; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.03.2021, L 20 SO 115718 ZVW). Demnach ist der Anteil der Kosten für die schulische Bildung nicht aus Mitteln der Eingliederungshilfe zu tragen. In dem Einzelfall, der dem angegebenen Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen zugrunde liegt, wird der Anteil schulischer Bildung mit ca. 42% beziffert.

Die Entwicklung der Tagesbildungsstätten hin zu Schulen zielt darauf ab, eine Finanzierungs- wie auch Rechtssicherheit für die Form der Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf herzustellen. Bei der Klärung der Finanzierung sollen alle Möglichkeiten geprüft werden, die im Rahmen des öffentlichen und freien Schulwesens einschließlich der Eingliederungshilfe und Finanzhilfe zur Verfügung stehen. Hier ist auch zu prüfen, ob beispielsweise der § 151 NSchG herangezogen werden kann. In einigen Orten blicken Eltern und Erziehungsberechtigte angesichts der veränderten Rechtslage und der ungeklärten Finanzierungssituation mit Sorge auf den Beginn des Schuljahres 2024/2025, für das in den kommenden Wochen die Anmeldungen erfolgen.

Weiterhin wird die Befürchtung geäußert, dass eine Überleitung der Tagesbildungsstätten in den Schulbereich ohne eine Sicherung der umfassenden pädagogischen Hilfen für die Kinder nicht zu gewährleisten sei. Viele Eltern und Erziehungsberechtigte machen sehr deutlich, dass eine der Behinderung angemessene Beschulung und Betreuung ihrer Kinder nur erfolgen kann, wenn die wichtigen Bereiche der lebenspraktischen Bildung und der medizinisch-pflegerischen Betreuung in vollem Umfang erhalten bleiben. Umso wichtiger ist an dieser Stelle ein enger Austausch und eine enge Zusammenarbeit mit den Trägern der Eingliederungshilfe und der Schulträger.

Diese Forderungen und Erwartungen wollen wir in den Umgestaltungsprozess einbeziehen und der verständlichen Besorgnis wollen wir mit Lösungsansätzen gerecht werden, in die die Erfahrungen und Erwartungen der Eltern und Erziehungsberechtigten einbezogen werden. Mit dem Antrag wollen wir einen Beitrag dazu leisten, dass alle Kinder und Jugendliche im Sinne der UN-BRK gleichberechtigt an schulischer Bildung teilhaben können. Bei einer angestrebten Entwicklung sind viele differenzierende Aspekte in den unterschiedlichen Trägerschaften (MK, MS, kreisfreie Städte, Landkreise und die Region Hannover) zu berücksichtigen sowie praxistaugliche Lösungen unter Einbeziehung der verschiedenen Perspektiven und Expertisen sowie Verantwortlichkeiten zu entwickeln. Eine frühzeitige und nachhaltige Einbindung aller Verantwortlichen ist daher unerlässlich.

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