Antrag (SPD, GRÜNE): Abschiebungshaft abschaffen, EU-Rückführungsrichtlinie umsetzen

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Fraktion der SPD

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

  1. Der Landtag stellt fest:
  1. Abschiebungshaft als Mittel zur Sicherung der Ausreise entfaltet einschneidende Wirkungen auf den Einzelnen und ist daher abzuschaffen. Stattdessen stehen weniger einschneidende Alternativen wie z. B. Meldepflichten oder die Stellung einer Kaution zur Verfügung und sind anstelle von Abschiebungshaft umzusetzen.
  2. In Niedersachsen wird Abschiebungshaft weiterhin zu schnell und zu häufig angeordnet sowie zu lange vollzogen. Das Abschiebungshaftverfahren ist oftmals mit Verfahrensfehlern und Fehleinschätzungen der Rechtslage belastet, so dass es zu einer nicht unerheblichen Zahl fehlerhafter Entscheidungen kommt.
  3. Bis zu einer Abschaffung der Abschiebungshaft ist dieses Instrument übergangsweise zu entschärfen.
  1. Für bestimmte, besonders verletzliche Gruppen wie Minderjährige, Schwangere, Alleinerziehende, Eltern mit minderjährigen Kindern, Traumatisierte und sonstige psychisch Kranke, Menschen mit Behinderung und ältere Menschen stellt die Abschiebungshaft eine besonders schwere Belastung dar. Bei diesen Personen ist in jedem Fall von Abschiebungshaft abzusehen. Familien dürfen nicht getrennt werden.
  2. Menschen, die sich in Abschiebungshaft befinden, sind allein deshalb keine Straftäter. Daher sind ihre Haftbedingungen von denen des Strafvollzugs deutlich zu unterscheiden. Dazu gehört eine strikte Trennung von Straf- und Untersuchungsgefangenen. Die Einschränkungen durch die Haft müssen so gering wie möglich gehalten werden.
  3. Die Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) hätte bis Dezember 2010 innerstaatlich umgesetzt werden sollen. Dies steht bislang auf Bundesebene noch aus. Trotz vieler Bedenken gegenüber einzelnen Bestimmungen, beispielsweise zur Dauer möglicher Abschiebungshaft, enthält die Richtlinie gleichwohl einige Regelungen, insbesondere zu den Modalitäten des Haftvollzugs, die gegenüber dem derzeitigen Zustand in Niedersachsen eine Reihe von Verbesserungen bringen würden und daher umgehend umzusetzen sind.
  1. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
  1. sich auf Bundesebene für die Abschaffung der Abschiebungshaft einzusetzen,
  2. bis zu einer Abschaffung der Abschiebungshaft mit dem Bund und erforderlichenfalls mit den Ländern verbindliche Vereinbarungen zu treffen, um die erforderlichen Anpassungen des geltenden Rechts im Hinblick auf die Anforderungen an die Umsetzung der Richtlinie 2008/115/EG so schnell wie möglich vorzunehmen und insbesondere folgende Punkte zu berücksichtigen:
  1. Rückreisepflichtige Personen erhalten nach Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 2008/115/EG nach der Rückreiseentscheidung eine Rückreiseaufforderung mit einer Frist von 30 Tagen zur freiwilligen Ausreise. Vor Ablauf der Frist werden sie nicht in Sicherungs- oder Vorbereitungshaft genommen.
  2. Zwangsmaßnahmen zur Durchführung der Abschiebung sind, wenn überhaupt, grundsätzlich "als letztes Mittel" gemäß Artikel 8 Absatz 4 der Richtlinie 2008/115/EGund so kurz wie möglich auszuüben. Vorher kommen weniger einschneidende Mittel wie die freiwillige Ausreise, Meldepflichten oder die Stellung einer Kaution in Betracht.
  3. Bei der Durchsetzung der Sicherungs- und Vorbereitungshaft wird gemäß Artikel 5 der Richtlinie 2008/115/EG in gebührender Weise das Wohl des Kindes, familiäre Bindungen und der Gesundheitszustand der betreffenden Personen und der Grundsatz der Nichtzurückweisung berücksichtigt. Besonders schutzbedürftige Personen wie Minderjährige, Schwangere, Alleinerziehende, Eltern mit Kindern, Traumatisierte und sonstige psychisch Kranke, Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen dürfen nicht in Abschiebungshaft genommen werden. Familien werden nicht getrennt.
  4. Abschiebungshaftgefangenen wird nach Artikel 13 der Richtlinie 2008/115/EG kostenlose Rechtsberatung und –vertretung unabhängig von den Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels gewährt. Sie werden zum frühestmöglichen Zeitpunkt im Verfahren über die Erteilung eines Aufenthaltstitels umfassend informiert in einer für sie verständlichen Sprache über das aufenthaltsrechtliche Verfahren und dessen mögliche Ergebnisse, die Möglichkeit der Beantragung von Beratungs- und Verfahrenskostenhilfe, aber auch und insbesondere über die Möglichkeit und die Voraussetzungen einer Abschiebungshaft.
  5. Abschiebungshaft wird in speziellen Hafteinrichtungen, unter keinen Umständen in Strafvollzugs- oder Untersuchungshaftanstalten, vollzogen und den Häftlingen werden großzügige Kontaktmöglichkeiten zu Verwandten und Freunden eingeräumt. Unabhängigen Organisationen wie dem UNHCR wird Zugang zu den Abschiebungshäftlingen ermöglicht und eine angemessene medizinische Versorgung, die den besonderen Bedürfnissen von Abschiebungshäftlingen gerecht wird, wird gewährleistet.
  1. bis zu einer Abschaffung der Abschiebungshaft durch einen entsprechenden Erlass die auf Landesebene vorhandenen Handlungsspielräume bei der Gestaltung des Haftanordnungsverfahrens und der Haftdurchführung zugunsten der Abschiebungshäftlinge zu nutzen und zu gestalten. Insbesondere sind durch den Erlass der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in allen seinen Bezügen unter anderem zu Haftdauer, besonders schutzbedürftigen Personen und Haftalternativen zu betonen und die Haftbedingungen zu optimieren. Dabei sind vor allem Aspekte wie die räumliche Trennung der Abschiebungsgefangenen von Straf- und Untersuchungsgefangenen, die Eröffnung weitgehender Freizeitgestaltungsmöglichkeiten und gute medizinische sowie psychologische Versorgung zu berücksichtigen. Des Weiteren sind in dem Erlass folgende Regelungen zu treffen:
  1. Die Hafthöchstdauer ist auf drei Monate und bei der ersten Haftanordnung auf höchstens vier Wochen zu begrenzen.
  2. Den Ausländerbehörden wird auferlegt, zwecks Evaluierung durch das Innenministerium die Anzahl der gestellten Haftanträge und deren Verlauf/Entscheidung zu erfassen.
  3. Haftanträge dürfen nur noch von Volljuristen gestellt werden.
  4. Den Betroffenen sind unverzüglich schriftliche Übersetzungen der Haftanträge und –beschlüsse zur Verfügung zu stellen.
  5. Haftverlängerung ist grundsätzlich mindestens zwei Wochen vor Ablauf der Haft zu beantragen.

Begründung

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat wiederholt betont, dass die Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz [GG]) ein besonders hohes Rechtsgut ist, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf. Der in Artikel 20 Absatz 3 GG verankerte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gewährleistet in Verbindung mit dem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG eine umfassende Prüfung der Voraussetzungen für die Anordnung von Abschiebungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht (BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2000, 2 BvR 347/00).

Wiederholt musste das BVerfG in Fällen von Abschiebungshaft – auch aus Niedersachsen - korrigierend eingreifen, etwa bei rechtswidrigen Festnahmen durch die Ausländerbehörden ohne richterlichen Haftbeschluss oder weil die richterliche Kontrolle formularmäßiger Anträge der Ausländerbehörden dem Amtsermittlungsgrundsatz nicht gerecht wird.

Noch immer wird Abschiebungshaft zu schnell, zu häufig und zu lange beantragt und verhängt (vgl. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz Nummer 84 vom März 2006, "Denkt an die Gefangenen”¦", S. 67). Die Deutsche Bischofskonferenz kommt daher zu dem Schluss: "Die Bedingungen, unter denen zurzeit Abschiebungshaft praktiziert wird, müssen dringend überprüft und verbessert wer- den" (ebd.).

Auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP auf Bundesebene wurde vereinbart, "gemeinsam mit den Ländern" zu "überprüfen, ob – auch im Lichte der Vorgaben der EU-Rückführungsrichtlinie – Anpassungen im praktischen Vollzug der Abschiebung und Abschiebungshaft sinnvoll sind." Erkennbar geschehen ist bisher nichts.

Der jüngste Todesfall in der Abschiebungshaft in Langenhagen hat den dringenden politischen Handlungsbedarf wieder auf tragische Weise verdeutlicht.

Der vorliegende Antrag greift daher Forderungen der Seelsorger in der Abschiebungshaft auf. Menschen in der Abschiebungshaft leiden unter den teilweisen langen Haftzeiten und der Ungewissheit über ihre Zukunft. Nicht zuletzt wegen ihrer Sprachprobleme und der Aufteilung der gerichtlichen Zuständigkeit zwischen den Zivilgerichten und den Verwaltungsgerichten haben Abschiebungshäftlinge auch erhebliche Schwierigkeiten, das komplizierte Ausländer- und Haftrecht zu verstehen. Sie begreifen deshalb oft nicht, weshalb sie sich in Haft befinden bzw. warum sie abgeschoben werden sollen. Viele Häftlinge werden krank an Leib und Seele, manche von ihnen verzweifeln und verletzen sich selbst oder versuchen gar, sich selbst zu töten.

In Niedersachsen wurden in den Jahren 2005 bis 2007 weniger als 50% der Abgeschobenen aus der Abschiebungshaft heraus abgeschoben. Die übrigen Abgeschobenen wurden zum weit überwiegenden Teil aus der Freiheit oder zu einem nur geringen Teil aus der Strafhaft heraus abgeschoben. Diese Zahlen verdeutlichen, dass auch ohne Abschiebungshaft die Durchsetzung der Ausreisepflicht möglich ist.

Bis zum 24. Dezember 2010 muss die Rückführungsrichtlinie (Richtlinie 2008/115/EG) in nationales Recht transformiert werden. Dies muss in einer Weise geschehen, die die Würde der Betroffenen achtet und die einschneidenden Wirkungen der Haft auf ein Minimum reduziert.

Anregungen, wie diese Mindeststandards unter Wahrung der Menschenrechte der Betroffenen umgesetzt werden können, geben u. a. die "Twenty Guidelines on Forced Return" des Europarates vom September 2005 sowie die Resolution 1707 (2010) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 28. Januar 2010.

Zu den einzelnen Forderungen in Abschnitt II:

Zu II.2.a. – Ausreisefrist einräumen

Die Rückführungsrichtlinie sieht vor, dass den Betroffenen vor Verhängung von Abschiebungshaft grundsätzlich eine Möglichkeit zur selbst organisierten, sog. freiwilligen Ausreise eingeräumt und hierfür eine Frist gesetzt wird. In der Praxis werden aber gerade Asylsuchende, für deren Schutzgesuch möglicherweise ein anderer europäischer Staat zuständig ist, und irreguläre MigrantInnen ohne eine solche Möglichkeit inhaftiert.

Zu II.2.b. – Abschiebungshaft als ultima ratio

Weniger einschneidende Mittel werden in Art. 7 Abs. 3 der Rückführungsrichtlinie vorgeschlagen.

Zu II.2.c. – besonders Schutzbedürftige ausnehmen

Für die genannten besonders schutzbedürftigen Personengruppen stellt die Abschiebungshaft eine besonders schwere und unverhältnismäßige Belastung dar. Die ernsten psychischen Folgen, die Haft besonders auf Kinder und Jugendliche haben kann, sind offensichtlich und bedürfen keiner Erläuterung. Nach der Rücknahme der Vorbehalte zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes ist eine gesetzliche Änderung für Minderjährige zwingend; dies könnte in § 62 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) geschehen.

Zu II.2.d. – Rechtsberatung und -vertretung

Abschiebungshäftlinge verfügen in aller Regel weder über die Rechts- noch über die Sprachkenntnisse, um ihre Interessen in Verfahren über die Abschiebung und die Sicherungshaft angemessen wahrnehmen zu können. Die Richtlinie schreibt in Artikel 13 Absatz 3 vor, dass Zugang zu kostenloser Rechtsberatung und -vertretung sowie gegebenenfalls zu einem Sprachbeistand gewährt wird. Die im derzeitigen deutschen Recht geltende Bindung an die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels führt indessen häufig dazu, dass Abschiebungshäftlinge aus finanziellen Gründen an der Wahrnehmung ihrer Verfahrensrechte gehindert werden. Anzustreben ist daher eine kostenlose und unabhängige Rechtsberatung und -vertretung für Abschiebungshäftlinge analog der seit Anfang 2010 geltenden Regelung für die Untersuchungshaft (§ 140 Absatz 1 Nummer 4 der Strafprozessordnung – StPO).

Zu II.2.e. – gesonderte Unterbringung und Haftstandards

Nach der Rückführungsrichtlinie soll es grundsätzlich spezielle Hafteinrichtungen für die Abschiebungshaft geben. Die von mehreren Bundesländern - auch in Niedersachsen - praktizierte Unterbringung von Abschiebungshäftlingen in Justizvollzugs- und – bei Frauen - Untersuchungshaftanstalten ist schnellstmöglich zu beenden. Für eine Übergangszeit sollte in diesen Anstalten eine gesonderte Unterbringung ermöglicht werden, so dass den Betroffenen deutliche Vollzugserleichterungen wie etwa erweiterte Zellenaufschlusszeiten gewährt werden können.

Zu II.3. – Erlass auf Landesebene

Durch Erlass des Innenministeriums sollen die Handlungsspielräume hinsichtlich der Haftanordnung und der Haftbedingungen im Sinne des eigentlichen Zwecks der Haft als Instrument der Sicherung des Abschiebungsvollzugs im Gegensatz zur Strafhaft genutzt werden. Das Land Nordrhein-Westfalen hat mit seinen "Richtlinien für den Abschiebungsgewahrsam" vom 19.01.2009 gezeigt, welche Handlungsspielräume für die dem Zweck angemessene Gestaltung der Abschiebungshaft existieren und wie sie zugunsten der Häftlinge genutzt werden können. Diese Vorgaben können als Beispiel für ein optimiertes Abschiebungsverfahren gelten. Die Höchstdauer bei der ersten Haftanordnung soll dazu beitragen, dass die Richter nach dieser Zeit noch einmal mit dem Fall befasst werden und das Verfahren zugunsten der Inhaftierten gestrafft wird. Eine Evaluierung ist angesichts der hohen Fehlentscheidungsquote dringend erforderlich. Zu einer Verbesserung der Qualität der Haftanträge soll auch die Bearbeitung durch Volljuristen in den Behörden beitragen. Die Achtung vor den Betroffenen und ihren Rechten gebietet es, Ihnen unverzüglich Übersetzungen der Haftanträge und -beschlüsse zur Verfügung zu stellen. Sie sollen in dieser Ausnahmesituation optimal über das Geschehen informiert werden, um ihre Rechte effektiv wahrnehmen zu können. Dazu gehört auch, dass Haftverlängerungen mindestens zwei Wochen vor Haftablauf zu beantragen sind. Denn nur so können die Inhaftierten und deren Rechtsbeistände angemessen auf den Verlängerungsantrag reagieren.

Stefan Wenzel 
Fraktionsvorsitzender

Stefan Schostok
Fraktionsvorsitzender

Zurück zum Pressearchiv