Antrag: Konsequenzen aus Dioxin-Skandal endlich ziehen - Ökologische Agrarwende und neues Kontrollsystem vorantreiben!

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

Der aktuelle Dioxin-Skandal zeigt einmal mehr die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Agrarpolitik hin zu einer fairen, bäuerlichen, tier- und umweltgerechten sowie vor allem bodengebundenen Tier- und Lebensmittelproduktion. Das immer größer werdende Ausmaß der Dioxinbelastung und die monatelang unbemerkte Vergiftung von Verbraucherinnen und Verbrauchern mit Produkten aus der Massentierhaltung zeigen, dass die Agrarindustrie ihre selbstproduzierten Risiken nicht in den Griff bekommt.

Neben kriminellem Handeln und Kontrolldefiziten ist Mitursache für den Skandal die von der Landesregierung mit zahllosen Subventionen und Erlassen unterstützte industrielle Billigproduktion. Diese setzt in immer größer werdenden Tierfabriken z.B. für Hühner und Schweine auf zu 100 % industriell und mit zahllosen Zusatzbestandteilen hergestelltes Fremdfutter. Bis 2007 hingegen musste ein landwirtschaftlicher Betrieb sein Futter überwiegend, d.h. zu mehr als 50 % noch selbst erzeugen, um in den Genuss der Privilegierung nach dem BauGB zu kommen.

Dieser Abschied von der bodengebundenen Tierhaltung hin zur industriellen Agrarproduktion und dem weltweiten Handel von Futtermittelbestandteilen in einem verzweigten und undurchschaubaren Netz ist eine Mitursache der zunehmenden Lebensmittelskandale.

So ist auch im aktuellen Dioxin-Skandal verunreinigte Ware von einem einzigen Futtermittellieferanten in tausenden Ställen verfüttert worden. Millionen Tiere und Lebensmittel wurden mit schädlichem Dioxin belastet. Der auf Niedersachsen konzentrierte Skandal hat mittlerweile europäische Ausmaße angenommen.

Eine Agrarwende zu einer sozial gerechten Qualitätslandwirtschaft mit fairen Preisen und hohen Umwelt-, Tierschutz- und Verbraucherschutzstandards ist überfällig. 

Das staatliche Kontrollsystem und die Eigenkontrollen der Wirtschaft haben im aktuellen Dioxin-Skandal versagt. Obwohl monate-, wenn nicht jahrelang teilweise um das 78fache über dem Grenzwert liegendes Industriefett in Tierfutter gemischt und damit letztendlich in Lebensmittel eingebracht wurde, wurde diese vermutlich größte Lebensmittelverseuchung der letzten Jahre nicht durch das staatliche Überwachungssystem aufgedeckt. Im Gegenteil wurde das Problem kleingeredet und noch Ende Dezember eine Belastung von Lebensmitteln durch das niedersächsische Agrarministerium öffentlich ausgeschlossen. Das bisherige Eigenkontrollsystem der Wirtschaft ermöglichte im aktuellen Fall das monatelange Vertuschen und Verschweigen auffälliger Proben zulasten des Gesundheitsschutzes der Verbraucherinnen und Verbraucher. Ein neues, grundlegendes Kontroll- und Überwachungssystem ist daher notwendig.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass

  1. amtliche Kontrollen in der Futtermittelbranche quantitativ und qualitativ deutlich ausgeweitet werden. Dazu gehört auch stärker die Vorproduktion in der Erzeugungskette in den Blick zu nehmen und Ergebnisse sofort zu veröffentlichen. Ein niedersächsischer Aktionsplan Verbesserung der Futtermittel- und Lebensmittelüberwachung soll innerhalb von drei Monaten dem Parlament vorgelegt werden. Darin sollen auch eine Task-Force Lebensmittelsicherheit, ein Ausbau der staatlichen Labormöglichkeiten, der Stellen in der Futtermittelüberwachung, Hilfen für Kommunen bei der Lebensmittelüberwachung und grundlegende Änderungen am bestehenden Kontrollsystem vorgeschlagen werden.
  2. der Verbraucherschutz in Niedersachsen oberste Priorität bekommt. D.h. bei begründetem Verdacht müssen wie in Nordrhein-Westfalen auch vor dem Vorliegen endgültiger Messergebnisse möglicherweise belastete Lebensmittel aus dem Handel genommen, die Verbraucher gewarnt und betroffene Betriebe verbindlich gesperrt werden. Im Zweifel muss ein worst- und nicht ein best-case-Szenario angenommen werden. Erst wenn klar ist, dass Lebensmittel definitiv nicht belastet sind, dürfen sie in den Handel. Private Labore müssen zur Meldung aller futter- und lebensmittelrelevanter Kontrollergebnisse an staatliche Stellen verpflichtet werden.
  3. das Verbraucherschutzinformationsgesetz in Richtung zu mehr Transparenz dringend novelliert wird und dabei klare Rechtsgrundlagen für die verbindliche zeitnahe Veröffentlichung und Weitergabe von Untersuchungsergebnissen, betroffenen Waren und Betrieben sowie sonstigen behördlichen Erkenntnissen geschaffen werden. Ziel muss es sein, bei Verbraucherschutzverstößen Namen der Verursacher und potenziell betroffene Chargen allgemeinverständlich und umgehend zu veröffentlichen.
  4. betroffene Landwirte nicht auf ihren Schäden sitzen bleiben. Wie auch bei diversen Genfuttermittelskandalen sind die Landwirte neben den Verbrauchern die größten Opfer des Dioxinskandals. Damit die Landwirte nicht auf den Kosten der Verunreinigung sitzen bleiben, muss es eine verpflichtende Haftungsregelung für Futtermittelhersteller, wie sie z.B. bereits in der EU-Futtermittel-Hygiene-Verordnung (EG) Nr. 183/2005 vorgeschlagen war, geben. Dieser von der Futtermittelindustrie gespeiste Fonds muss bei Fehlalarm und wenn kein Verursacher einer Verunreinigung zu greifen ist herangezogen werden. Eigentümer, die Unternehmenskontrollen über Treuhandgeber ausüben sind im Handelsregister auszuweisen, um eine Durchgriffshaftung zu ermöglichen.
  5. technische Fette unter keinen Umständen in die Lebensmittelkette gelangen. Dazu müssen Unternehmen, die Futterfette herstellen oder diese verkaufen, strikt von Unternehmen getrennt werden, die technische Fette handeln. Eine klare Trennung der Produktströme muss dafür sorgen, dass Vermischungen, ob gewollt oder versehentlich, verhindert werden. Das Land setzt sich über den Bundesrat dafür ein, das Futtermittelrecht entsprechend zu ändern und damit sicherer auszugestalten. Die abfallrechtlichen Grenzwerte für dioxinhaltige Abfälle zur Beseitigung müssen um einige Größenordnungen verschärft werden.
  6. Unternehmen, die Futterfette herstellen oder mit diesen handeln, in der Zukunft einer eigenen behördlichen Zulassung unterliegen müssen. Mit dieser Zulassung müssen klare Verpflichtungen und eine Eignungsprüfung (Zuverlässigkeit, Qualifikation, Schulung) des Futtermittelunternehmers verbunden sein, die zu mehr Futtermittelsicherheit führen. Zulassungen können nur gewährt werden, wenn die innerbetrieblichen Abläufe transparent, nachvollziehbar und durch die Behörden als sicher bewertet werden. Auch andere Gewerbebetriebe wie z.B. Speditionsunternehmen müssen in Zukunft vor Ort intensiv und risikoorientiert überprüft werden, ob sie nicht selbst Futtermittel herstellen oder verpanschen.
  7. eine Positivliste für Futtermittel verbindlich vorgeschrieben wird. Darin sollen alle Stoffe aufgeführt werden, die in der Tierfütterung eingesetzt werden dürfen. Andere Zusätze sind damit zu verbieten.
  8. eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Bundesländern, Bund, EU und Kommunen bei der Lebens- und Futtermittelüberwachung erfolgt. Informationen müssen auch bei unterschiedlicher Risikoeinschätzung verbindlich, unverzüglich, vollständig und umfassend weitergeleitet werden. Ein einheitliches Vorgehen auf dem höchsten Niveau des Verbraucher- und Umweltschutzes ist dabei anzustreben.
  9. regionale, in der gesamten Kette weitgehend selbst erzeugte Produkte stärker gefördert werden. Regional, auf kurzen Wegen vermarktete Produkte ermöglichen mehr Transparenz und Vertrauen und leisten einen Beitrag zur nachhaltigen Ernährung. Dies kann u.a. durch einen Schwerpunkt in den Vermarktungsaktivitäten des Landes, einem eigenen Qualitätszeichen "Regionales Niedersachsen" bzw. der Unterstützung von Regionalmarken mit klaren regionalen Erzeugungsketten geschehen.
  10. die Ökolandwirtschaft stärker gefördert wird. Die Ökolandwirtschaft ist durch geschlossene Kreisläufe, transparente Erzeugung, verbrauchernahe Vermarktung und strenge Kontrollen gekennzeichnet. Dazu sollte Niedersachsen die Prämien für den Ökologischen Landbau mindestens auf das Durchschnittsniveau der Bundesländer anheben. Mit einer Verbesserung der Förderung, Intensivierung der Beratung, Ausbau der praxisnahen Forschung und Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit sollen zusätzliche Anreize für den Ausbau der Ökolandwirtschaft in Niedersachsen gesetzt werden.
  11. eine bodengebundene Tierhaltung in der Landwirtschaft wieder die Regel wird. Nur Betriebe, die ihr Futter überwiegend selbst erzeugen, bekommen im Unterschied zu gewerblich-industriellen Betrieben, die Privilegierung und Förderung als landwirtschaftlicher Betrieb. Dazu setzt sich das Land für eine entsprechende Änderung bzw. Auslegung des Baugesetzbuches ein. Ziel ist, dass Tierhaltungsanlagen wieder eine reale Verwendung von mehr als 50 % selbsterzeugtem Futter nachweisen müssen, um als landwirtschaftlicher Betrieb privilegiert zu sein. Alle Förderungen für industrielle Massentierhaltung müssen beendet werden.
  12. die Erzeugung eigener Futtermittel in Niedersachsen gefördert wird. Mit einer eigenen Futtermittelstrategie sollte das Land insbesondere die Grünlandnutzung und Förderung des Anbaus eiweißreicher Futtermittel in Niedersachsen verstärken.

Begründung

Der Dioxin-Skandal zeigt die Notwendigkeit eines grundlegenden Umsteuerns in der Lebensmittelerzeugung, weg von der industriellen Massenproduktion hin zur ökologischen, bodengebundenen und für alle Beteiligten fairen und transparenten Erzeugung.

Der deutliche Kostendruck hin zur Billigproduktion von Lebensmitteln vergrößert das Risiko für die Verbraucher, wie die erfolgte Dioxinpanscherei in Futtermitteln durch billige Industriefette eindrücklich zeigt.

Die Ökolandwirtschaft ist durch geschlossene Kreisläufe, transparente Erzeugung, verbrauchernahe Vermarktung und strenge Kontrollen gekennzeichnet. Der Futtermittelzukauf ist mengenmäßig und von der Auswahl der Futtermittel her streng begrenzt. Natürlich kann es auch im Ökobereich zu Lebensmittelskandalen kommen, wie der Skandal um dioxinverunreinigtes Futter aus der Ukraine im Frühjahr 2010 zeigte.

Aber auch dieser Skandal zeigt die Notwendigkeit zum Ausbau der Eigenfuttererzeugung in Niedersachsen.

Heute werden hingegen gut 50 Prozent des Eiweißfutters importiert. Mit zunehmender Intensivierung der Tierhaltung stieg der Import von Eiweißfuttermitteln in den letzten Jahren drastisch an. Schon heute nutzt Deutschland drei Millionen Hektar Ackerfläche vornehmlich in Ländern des globalen Südens zum Anbau von Futtermitteln, die EU importiert die Erträge von 18 Millionen Hektar. Damit verbunden sind ökologische und soziale Verwerfungen in den Herkunftsländer. Kleinbauern werden von ihrem Land vertrieben, um Platz für den so genannten Cash-Crop-Anbau großer Agrarunternehmen zu schaffen. Regenwald wird gerodet, um neue Ackerflächen zu gewinnen. Der Anbau geht einher mit dem verstärkten Einsatz gentechnisch veränderter Organismen und massiven Pestizidanwendungen.

Gleichzeitig verschlechtert sich die Eigenversorgung mit Eiweißfuttermitteln in Deutschland kontinuierlich. Dies führt zu einer weiteren Verengung der Fruchtfolgen, zum Verlust agrarökologischer Vielfalt und zum Verlust von Böden.

Eine stärker bodengebundene Tierhaltung und Stärkung der Eigenversorgung mit Futtermitteln ist daher sowohl aus Sicht des Verbraucher- und Umweltschutzes als auch zur Stärkung der heimischen Landwirtschaft notwendig.

Die Abschaffung der bodengebundenen Tierhaltung als Voraussetzung der Privilegierung nach dem Baugesetzbuch im Jahre 2007 war zusammen mit dem "Gesetz zur Reduzierung und Beschleunigung von immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren" ein starker Motor für die Massentierhaltung in immer größeren Ställen und die Industrialisierung der Landwirtschaft. 

Klar ist auch: Es gibt erhebliche Mängel beim Verbraucherschutz in Niedersachsen. Die Landesregierung hat das Dioxinproblem zunächst heruntergespielt und eine mögliche Belastung der Endprodukte (Eier) abgestritten. So schrieb NDR-ONLINE auf Vorwürfe der Grünen und der NRW-Landesregierung noch am 29.12.2010: "Ein Sprecher des Agrarministeriums in Hannover erklärte, die Auslieferung der Eier der betroffenen [!] Farmen, sei nicht gestoppt worden, da der Verzehr als "unproblematisch" anzusehen sei."

Laut der eigenen Chronik des niedersächsischen Agrarministeriums wurde erst nach dem 30. Dezember ein genereller Erlass zur Sperrung aller betroffenen Betriebe herausgegeben, den NRW schon am 23. Dezember verfügt hatte:

Zitat Niedersächsisches Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Landesentwicklung:

"Am 30. Dezember wurde ML über Eigenkontrollergebnisse aus zwei niedersächsischen Legehennenbetrieben informiert. In einem Betrieb ist die Höchstmenge leicht überschritten, im zweiten Betrieb ist die Höchstmenge leicht unterschritten. ML gab daraufhin [!] an die Landkreise einen Erlass heraus, wonach eine Kontamination der Eier nach Verfütterung des Legehennenfutters nicht ausgeschlossen werden kann und deshalb alle betroffenen Betriebe bis zum Vorliegen amtlicher Untersuchungsergebnisse zu sperren sind. Sofern dies nicht kooperativ vom Unternehmer zugesichert wird, sollte es durch Verfügung des Landkreises gewährleistet werden."

(Quelle: www.ml.niedersachsen.de/live/live.php)

Sollten wie vom ML angesichts der massiven öffentlichen Kritik am Versagen des Verbraucherschutzes in Niedersachsen nachträglich behauptet, bereits am 23.12.2010 alle möglicherweise betroffenen Betriebe vom Land gesperrt worden sein, ist dies ein Widerspruch zu den öffentlichen Aussagen, dass das Land laut Chronik des ML erst nach dem 30.12.2010 einen Erlass zur Sperrung aller betroffenen Betriebe herausgab.

Eine Neupriorität für den präventiven Verbraucherschutz in Niedersachsen ist daher überfällig. Gesundheits- und Verbraucherschutz muss klaren Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen haben. Bei begründetem Verdacht muss es zu sofortigen Sperrungen der Betriebe und Rückruf der Produkte kommen, auch wenn im Endprodukt noch keine Grenzwertüberschreitung festgestellt wurde.

Klar ist auch: Bei den aktuellen Vorfällen sind die Landwirte für die Dioxin-Verunreinigung nicht verantwortlich, müssen aber in vielen Fällen zunächst selbst für Verdienstausfälle aufkommen. Es ist zu befürchten, dass Landwirte in vielen Fällen dauerhaft den Schaden tragen müssen, da die verursachenden Unternehmen angesichts der Höhe des Schadens ggf. in Insolvenz gehen.

Ein umfassender Haftungsfonds der Futtermittelindustrie ist daher auch zum Schutz der unschuldigen Landwirte, Verbraucherinnen und Verbraucher überfällig.

Aber auch das öffentliche Kontrollsystem hat deutlich versagt. Lediglich 14 staatliche Futtermittelkontrolleure in Niedersachsen bei 50.000 mit Tiernahrung arbeitenden Betrieben können kein wirksames Abschreckungspotenzial gegen kriminelle Machenschaften und für ein Höchstmaß an Verbraucherschutz darstellen.

Wir erwarten daher vom Land einen Aktionsplan Verbraucherschutz, in dem eine grundlegende Neuausrichtung des Kontrollsystems als Konsequenz aus dem aktuellen Skandal vollzogen wird.

Es darf nicht sein, dass sich die Wirtschaft quasi selbst kontrolliert und missliebige Messergebnisse von Eigenkontrollen einfach verheimlicht werden.

Zur Finanzierung eines verbesserten Kontrollsystems ist die Futtermittelwirtschaft als Verursacher der Skandale heranzuziehen.

Fraktionsvorsitzender

Zurück zum Pressearchiv