Antrag: Kein Kind zurücklassen! Ein Bildungsschutzschirm für Kinder und Jugendliche
Der Landtag wolle beschließen:
Entschließung
Die Corona-Pandemie trifft uns alle, aber sie trifft uns nicht alle gleich. Seit dem ersten Lockdown im März lernen alle Schüler*innen unter ungewohnten, unter erschwerten Bedingungen. Aber nicht alle sind dadurch gleichermaßen betroffen. Studien zeigen, dass jedes fünfte aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland unter Bildungsbenachteiligung leidet und im Homeschooling durch Bildungsangebote nur noch schwer oder gar nicht erreicht werden kann. Diese Kinder verpassen Schulstoff und verlernen Gelerntes. Sie fallen zurück und durchs Raster. Die Ungleichheiten im Bildungssystem verschärfen sich tagtäglich weiter.
Kinder und Jugendliche haben eigene Bedürfnisse, ein Recht auf Kindheit, ein Recht auf Bildung. Sie sind die Staatsbürger*innen, die Demokrat*innen, die Arbeiternehmer*innen von morgen. Wir haben ihnen gegenüber die Pflicht, ihnen auch in dieser Pandemie Bildung, gleiche Chancen und Teilhabe zukommen zu lassen. Und zwar allen. Daher braucht es jetzt einen Bildungsschutzschirm für Kinder und Jugendliche inklusive eines Anspruchs auf Corona-Förderung bei Lernrückständen.
Ohne Frage gilt: In der aktuellen Corona-Situation ist absolute Vorsicht geboten. Jeder Nicht-Kontakt zählt, und es hat sich gezeigt, dass auch Schulen, gerade der älteren Jahrgänge, Treiber der Infektion sein können. Zugleich können wir nicht hinnehmen, dass wir Teile einer ganzen Generation verlieren.
Im dritten Corona-Halbjahr müssen wir sicherstellen, dass jedes einzelne Kind erreicht wird. Das heißt nicht, dass jedes Kind wieder zur Schule kommen muss, sondern dass jedes Kind ein Bildungsangebot bekommt. Es geht hier um Kinder, die zu Hause nach wie vor keinen digitalen Zugang haben und so nicht am Distanzunterricht teilnehmen können. Kinder, deren Eltern beim Homeschooling nicht helfen können – während sich andere Familien zur Unterstützung private Nachhilfe leisten. Schüler*innen, die zwar eine Möglichkeit zur Teilnahme in der Notbetreuung hätten, deren Eltern aber daran scheitern, sie dafür anzumelden. Die Konsequenzen sind für diese Kinder fatal: Grundschüler*innen, die das komplette Alphabet oder Einmaleins vergessen haben. Andere Kinder, denen die Tagesstruktur weggebrochen ist, die von ihren Lehrkräften oder Sozialarbeiter*innen nicht mehr erreicht werden, denen das Schulessen fehlt.
Bildung darf auch in einer Pandemie kein Privileg sein. Wenn wir jetzt nicht handeln und einen Bildungsschutzschirm für Kinder und Jugendliche spannen, verschärft sich die Chancenungleichheit nicht nur weiter, sondern wird auf lange Sicht manifestiert.
Der Landtag wolle beschließen:
1. Materielle Voraussetzungen für flexibles und sicheres Lernen schaffen
a) Das Land wird aufgefordert, durch ein Sofortausstattungsprogramm für die Organisation einer funktionierenden Infrastruktur zu sorgen. Dafür werden für die Beschäftigten in Kita und Schule, die Kita-Kinder und die Schüler*innen hinreichend Schnelltests zur Verfügung gestellt. Die Beschäftigten werden zudem mit FFP2-Masken versorgt. Kinder und Jugendliche aus finanzschwachen Familien bekommen kostenlosen und sicheren MNS gestellt - soweit verfügbar nach FFP2-Standard, sonst medizinische Masken.
b) Das Land wird aufgefordert, das Lernen in kleineren Gruppen außerhalb von Schulen durch Anmietung von Bibliotheken, Seminarräume, Kunsthallen, Museen, regionale Umweltzentren und andere während der Pandemie ungenutzten Räumlichkeiten zu ermöglichen.
c) Für den Schüler*innenverkehr sind die Kommunen organisatorisch und finanziell noch stärker durch das Land zu unterstützen, private Busunternehmen anzumieten, um Überfüllungen zu vermeiden und zugleich gestaffelte Schulzeiten abdecken zu können.
d) Das Land wird aufgefordert dafür zu sorgen, dass bedürftige Kinder und Jugendliche ein warmes Mittagessen über ihre Einrichtungen zur Verfügung gestellt bekommen und schafft die organisatorischen und hygienischen Voraussetzungen.
e) Um den noch länger relevanten digitalen Unterricht für alle zu ermöglichen, wird das Land aufgefordert, Klassenräume mit schlechten Internetverbindungen über GigaCubes, Speedboxen und ähnliche Router schnelles WLAN auszustatten. Schulen in Regionen ohne Netzabdeckung werden über leihweise bereitgestellte MRT-Geräte (Mobile Radio Trailer), wie sie sonst bei großen Festivals und Veranstaltungen eingesetzt werden, mobiles Internet bekommen. Ein großangelegtes Fortbildungsangebot in digitaler Bildung für pädagogische Fachkräfte wird zügig geschaffen.
f) Das Land wird aufgefordert, die Angebote der Mobilfunkanbieter für Bildungsflatrates (Mobilfunkanschlüsse) mit „Education Pass“, also freiem Zugang zu Lerninhalten, anzunehmen. Entsprechende SIM-Karten stehen kurzfristig und in großer Anzahl zur Verfügung. Jedes benachteiligte Kind hat ein Anrecht auf einen Laptop und auch jede Lehrkraft bekommt einen Laptop zur Verfügung gestellt.
g) Um die Lehrkräfte und Schüler*innen zu entlasten und Kapazitäten zu schaffen, soll das Land im aktuellen Halbjahr die Anzahl der Klassenarbeiten deutlich reduziert, das Sitzenbleiben ausgesetzt, die Abschlussprüfungen als Durchschnittsnote vergeben und die starren Lehrpläne entschlackt. Mit dem gewonnenen Spielraum konzentrieren sich die Schulen auf das Aufholen von Rückständen.
2. Kein Kind zurücklassen - Benachteiligte Kinder zuvorderst fördern
a) Das Land soll einen Anspruch auf Corona-Förderung bei Lernrückständen etablieren. Klassenlehrkräfte legen für die Schulleitungen dar, welche Kinder aufgrund der Situation im letzten halben Jahr überdurchschnittlich hohe Lerndefizite haben, um diese besonders zu fördern.
b) Für den noch andauernden Lockdown bedeutet dies, dass Kindern, die in den letzten Wochen über den Distanzunterricht nicht erreicht wurden bzw. bei denen klar ist, dass sie massive Lerndefizite haben, in der Schule eine sichere Lernumgebung (Lernräume mit pädagogischer Begleitung) erhalten. Lehrer*innen werden Guidelines an die Hand gegeben werden, um diese Schüler*innen zu identifizieren, sie besonders zu fördern und sicherzustellen, dass diese Kinder auch kommen.
c) Nach dem Lockdown bzw. im Wechselunterricht soll für benachteiligte Kinder in Kern- oder Prüfungsfächern Ganztagsunterricht eingerichtet und in den Osterferien zusätzliche Lernangebote in kleinen Gruppen organisiert werden. Auch für die Sommerferienzeit werden verbindliche Lernangebote organisiert, damit für benachteiligte Kinder und Jugendliche bis dahin ein verbindliches Angebot besteht.
d) Voraussetzung für die nachhaltige Förderung benachteiligter Kinder ist die Ermittlung ihrer Lernrückstände. Daher werden zeitnah im Frühjahr verpflichtende Lernstandserhebungen in den Grundschulklassen durchgeführt.
e) Für die Förderung benachteiligter Schüler*innen braucht es zusätzliches Personal. Masterstudierende in den relevanten Fächern werden unter anderem als Bildungslotsen für die Unterstützung benachteiligter Kinder und für zusätzliche Kleingruppenangebote gewonnen. Hierfür ist ein attraktives Angebot für Studierende (gerade auch im ländlichen Raum) zu schaffen – beispielsweise neben der Vergütung ein Erlass der BAföG-Rückzahlung oder zusätzliche Credit-Points.
f) Auch im Lockdown sollen die Angebote der Berufsorientierung, Jugendberufsagenturen und Übergangsberatungen ggf. digital wieder aufgenommen bzw. weitergeführt werden, damit junge Menschen auch unter den schwierigen Bedingungen den Start ins Berufsleben meistern können.
g) Das Land soll darauf hinwirken, eine niedersachsenweit einheitliche Regelung zur Erstattung von Kita-Gebühren herbeizuführen, um regionale Unterschiede und Ungerechtigkeiten für die Familien zu vermeiden.
Begründung
In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom 21.01.21wird der Expert*innenbericht der Friedrich-Ebert-Stiftung präsentiert, in dem 22 Expert*innen die schwierige Lage für benachteiligte Familien und speziell Kinder und Jugendliche darlegen, wissenschaftliche Forschung präsentieren und Vorschläge zur Verhinderung weiterer Ungerechtigkeiten unterbreiten.
Demnach mangelt es benachteiligten Schüler*innen zuhause oft an technischer Infrastruktur. Eine Familie, die an der Armutsgrenze lebt, hat z.B. wegen negativer Bonitätsprüfung häufig keine Chance, einen Internet- oder Mobilfunkvertrag abzuschließen oder kann ihn schlicht nicht bezahlen.
Wissenschaftler, aber auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes fordern seit längerem, einen Masterplan, wie Lernrückstände aufzuholen sind.
Die Autor*innen des oben genannten Papiers attestieren dem Deutschen Bildungssystem ein Gerechtigkeitsproblem. Es gelinge nicht, die ungleichen Startbedingungen von Kindern – je nach Herkunft, Geschlecht, Religion oder körperlichen Voraussetzungen – in ausreichendem Maß auszugleichen. Das sei schon vor Corona so gewesen, doch die Pandemie habe das Problem verstärkt. Im Artikel heißt es weiter, dass Studien belegen, dass besonders Kinder aus bildungsfernen Familien oder mit einer nicht deutschen Muttersprache unter den Schulschließungen leiden, weil sie zuhause nicht entsprechend aufgefangen werden könnten.
Vor diesem Hintergrund forderte die genannte Expert*innenkommission langfristige und kurzfristige Maßnahmen, die den geforderten Entschließungen zugrunde liegen.