Antrag: Inklusive Schule verwirklichen - sonderpädagogische Förderung in den allgemeinen Schulen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

Menschen mit Behinderungen haben einen Anspruch auf volle Teilhabe an der Gesellschaft. Voraussetzung und Element dieser Teilhabe ist in Übereinstimmung mit der UN-"Convention on the Rights of Persons with Disabilities" ihre Integration in das allgemeine Schulwesen. Im niedersächsischen Schulsystem wird demgegenüber die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf aus den allgemeinen Schulen ausgesondert.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

die sonderpädagogische Förderung in der Schule im Sinne der Inklusion so umzugestalten, dass alle Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den allgemeinen Schulen optimal gefördert werden können:

  1. Die allgemeinen Schulen sind für alle Schülerinnen und Schüler ihres Einzugsbereiches zuständig. Sie entwickeln Konzepte für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Eine Überweisung von Schülerinnen und Schülern an eine Förderschule ist ohne Zustimmung ihrer Erziehungsberechtigten nicht mehr möglich.
  2. Die Förderschulen mit den Schwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache werden ab dem Schuljahr 2010/11 in die allgemeinen Schulen integriert.
    Die Förderschulen mit den Schwerpunkten geistige Entwicklung, motorische und körperliche Entwicklung, Sehen oder Hören bleiben bedarfsabhängig als Kompetenzzentren erhalten. Die sonderpädagogische Förderung wird unter Wahrung des Elternwahlrechtes überwiegend oder vollständig in die allgemeinen Schulen verlagert.
  3. Die personellen Ressourcen für die sonderpädagogische Förderung werden auch bei zurückgehenden Schülerzahlen vollständig erhalten und im Rahmen der Integration schrittweise auf die allgemeinen Schulen übertragen.
  4. Die allgemeinen Schulen erhalten Stellen für Sonderpädagogik und pädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsprechend ihrer Gesamtschülerzahl, wobei soziale Kriterien mit Hilfe von Sozialindikatoren berücksichtigt werden.
    Zusätzliche Ressourcen erhalten die allgemeinen Schulen von den zuständigen Förderschulen für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung, motorische und körperliche Entwicklung, Sehen oder Hören
  5. In den allgemeinen Schulen und Schulverbünden werden Unterstützungs-Zentren eingerichtet, die den Einsatz der sonderpädagogischen Ressourcen organisieren. Einbezogen sind auch Ressourcen für die Sprachförderung und für spezielle Angebote für besonders Begabte.
  6. In Verhandlungen mit den Kommunen strebt das Land an, feste Kooperationen zwischen den Schulen und den kommunalen Unterstützungsangeboten (Jugendhilfe, Gesundheitsdienst, Kommunaler Sozialdienst, Jugend- und Familienberatung, Kinder- und Jugendpsychiatrie) zu vereinbaren. Ziel sind regelmäßige niedrigschwellige Beratungsangebote in den Schulen für Lehrkräfte, Eltern sowie Schülerinnen und Schüler und eine Koordination zwischen schulischen und außerschulischen Hilfen. Organisiert wird die Kooperation von Seiten der Schulen von den Unterstützungs-Zentren.
  7. Die Förderressourcen werden von den Unterstützungs-Zentren flexibel eingesetzt für jeweils geeignete, vielfältige Fördermaßnahmen von zeitlich begrenzter Einzel- und Kleingruppenförderung bis zur Einrichtung von überwiegend doppeltbesetzten Integrationsklassen.
    Die Schulen erhalten die notwendige Flexibilität bei der Klassenbildung, damit sie Integrationsklassen mit insgesamt nicht mehr als 24 Schülerinnen und Schülern bilden können.
  8. Auf der Grundlage der sonderpädagogischen Förderdiagnostik werden individuelle Förderpläne erstellt und ihre Umsetzung evaluiert.
  9. In den Schulen werden die baulichen Voraussetzungen für die Integration der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf geschaffen.
    U.a. werden für Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf im Bereich emotionale und soziale Entwicklung Räume für time-out-Angebote eingerichtet.
  10. Mit intensiven Qualifizierungsangeboten werden die Lehrkräfte und pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf und auf die Kooperation mit anderen Fachkräften vorbereitet.
    Es werden regionale Fachkonferenzen für die Sonderpädagogik-Lehrkräfte und pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der verschiedenen Förderschwerpunkte eingerichtet. Sie dienen der nachhaltigen Qualitätsentwicklung.

Begründung

Seit Jahrzehnten setzt sich zunehmend die Überzeugung durch, dass mit einem inklusiven Schulsystem Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in ihrer Entwicklung am besten unterstützt und ihr Recht auf volle gesellschaftliche Teilhabe verwirklicht werden kann. Mit ihrer Unterschrift unter der UN-"Convention on the Rights of Persons with Disabilities" verpflichtet sich auch die Bundesrepublik, "Menschen mit Behinderungen (”¦) Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen" zu sichern. Entsprechend dieser Verpflichtung muss auch das Schulgesetz novelliert werden (vgl. Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen "Zur Verwirklichung des Rechtes auf Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Schule").

Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass sich ein gemeinsamer Unterricht deutlich positiv auf die Leistungs- und Intelligenzentwicklung der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auswirkt. Auch die Leistungsentwicklung leistungsstarker Schülerinnen und Schüler wird in integrativen Klassen zumindest nicht beeinträchtigt, sondern in vielen Fällen ebenfalls gefördert.

Demgegenüber konnte bei Untersuchungen der Leistungsentwicklung von Schülerinnen und Schülern in Förderschulen im Bereich Lernen keine kompensatorische, rehabilitative Wirksamkeit dieser Schulform festgestellt werden (vgl. z.B. H. Wocken, Fördert Sonderschule?, In: I. Demmer-Dieckmann / A. Textor (Hg.), Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog Bad Heilbrunn, 2007) Eine vergleichende Langzeitstudie in der Schweiz hat gezeigt, dass sich eine Sonderbeschulung deutlich negativ auf das Selbstbild und die Sozialkontakte der Schülerinnen und Schüler auswirkt (vgl. M Eckhart, D Riedo, Langzeitstudie über die Berufslaufbahn von schulleistungsschwachen Jugendlichen, 1999).

Die Schülerinnen und Schüler, die eine Förderschule für den Bereich Lernen besuchen, sind in hohem Grade sozial ausgelesen. Sie stammen überwiegend aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sind in diesen Förderschulen deutlich überrepräsentiert. Die gesellschaftliche Ausgrenzung dieser Kinder wird durch ihre Überweisung an eine Förderschule verfestigt.

In den meisten europäischen Ländern werden Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf vorrangig an allgemeinen Schulen gefördert. Während in Deutschland 4,6 % der Schülerinnen und Schüler eine Förderschule besuchen, sind es in Italien, Spanien, Portugal unter 0,5% und u.a. in Großbritannien, Irland, Schweden und Dänemark maximal 1,5%.

Nach dem Vorbild dieser Länder soll auch in Niedersachsen die sonderpädagogische Förderung dem Primat der Inklusion folgen. Die Förderschulen für die Bereiche Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache sollen jahrgangsweise in die allgemeinen Schulen überführt werden. Die Förderschulen für die Bereiche geistige Entwicklung, motorische und körperliche Entwicklung, Sehen oder Hören sollen als Kompetenzzentren bedarfsabhängig erhalten werden. Unterricht soll in diesen Schulen jedoch nur noch angeboten werden, solange dies von einem ausreichenden Teil der Eltern gewünscht wird.

Voraussetzung für einen erfolgreichen gemeinsamen Unterricht ist, dass in den allgemeinen Schulen die erforderlichen Bedingungen geschaffen werden. Für Bremen ist hierfür in einem Gutachten ein Konzept vorgelegt worden, das zu großen Teilen für Niedersachen übernommen werden kann (K. Klemm, U. Preuss-Lausitz, Gutachten zum Stand und zu den Perspektiven der sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Stadtgemeinde Bremen, Essen und Berlin, Juli 2008).

Die personellen Ressourcen für die sonderpädagogische Förderung sollen vollständig erhalten und schrittweise mit den Schülerinnen und Schülern an die allgemeinen Schulen überführt werden. Diese Ressourcen sollen den allgemeinen Schulen für die Förderschwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung und Sprache nach der Gesamtzahl ihrer Schülerinnen und Schüler zugewiesen werden, wobei mit Hilfe von Sozialindikatoren die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft berücksichtigt werden soll. Für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen  geistige Entwicklung, motorische und körperliche Entwicklung, Sehen oder Hören sollen die Ressourcen den Schulen jeweils nach Anzahl dieser Schülerinnen und Schüler zugeteilt werden.

Beim Stand der Unterrichtsversorgung (13.09.2007) können den allgemeinen Schulen pro Schülerin und  Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen 2,93 Förderpädagogik-Lehrerstunden zur Verfügung gestellt werden und je Schülerin und Schüler mit Förderbedarf im Bereich geistige Entwicklung 5,43 Std., im Gesamtdurchschnitt aller Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf 3,55 Sonderpädagogik-Lehrerstunden je Schülerin und Schüler. Bis 2020 wird ein Rückgang der Schülerzahlen in Niedersachsen um 25% prognostiziert. Wenn trotz dieses Rückgangs die personellen Ressourcen für sonderpädagogische Förderung erhalten werden, werden dann den allgemeinen Schulen im Gesamtdurchschnitt pro Schülerin und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf 4,73 Sonderpädagogik-Lehrerstunden zur Verfügung stehen. Hinzu kommen die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Betreuungskräfte, die heute den Förderschulen zur Verfügung stehen, und Eingliederungshelferinnen und -helfer, auf die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf nach dem Sozialgesetzbuch Anspruch haben.

Um eine umfassende Förderung zu ermöglichen, soll darüber hinaus eine intensive Kooperation der allgemeinen Schulen mit den kommunalen Unterstützungsangeboten für Kinder und Jugendliche und ihre Eltern (Jugendhilfe, Gesundheitsdienst, Kommunaler Sozialdienst, Jugend- und Familienberatung, Kinder- und Jugendpsychiatrie) institutionalisiert werden. Anzustreben sind regelmäßige niedrigschwellige Beratungsangebote dieser Stellen in den Schulen für die Lehrkräfte, die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern und eine enge Koordination zwischen den schulischen und den außerschulischen Hilfen. Diese Beratungs- und Unterstützungsangebote in der Schule haben sich z.B. in Finnland sehr bewährt und würden allen Schülerinnen und Schülern zu Gute kommen.

Um die eigenen Förderressourcen der Schulen und die Kooperation mit außerschulischen Unterstützungsangeboten zu organisieren, werden in den Schulen und Schulverbünden Unterstützungs-Zentren eingerichtet, deren Leitung von bisherigen Förderschul-Leiterinnen und –Leitern übernommen werden kann.

Die Förderressourcen werden von den Unterstützungs-Zentren flexibel für jeweils geeignete Fördermaßnahmen eingesetzt. Diese können von zeitlich begrenzter Einzel- und Kleingruppenförderung bis zu Integrationsklassen reichen, in denen Schülerinnen und Schüler z.B. mit sonderpädagogischem Förderbedarf in den Bereichen geistige Entwicklung oder emotionale und soziale Entwicklung bei weitgehender Doppeltbesetzung gefördert werden können. Die Förderung erfolgt auf der Grundlage individueller Förderpläne, die regelmäßig fortgeschrieben werden. Der flexible, unter Umständen auch zeitlich begrenzte Einsatz der Förderressourcen ermöglicht, dass wie z.B. in Finnland ein größerer Teil der Schülerinnen und Schüler zeitweise an den Förderangeboten partizipieren kann.

Die Schulen müssen auch baulich dafür ausgestattet werden, dass ein gemeinsamer Unterricht gelingen kann. Für Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen in den Bereichen der körperlichen und motorischen Entwicklung, des Sehens und des Hörens müssen die notwendigen Einrichtungen vorhanden sein. Die Kosten der Kommunen für diese Ausstattung der allgemeinen Schulen werden dadurch kompensiert, dass Kosten für den Betrieb der Förderschulen und der Schülertransportkosten zu den Förderschulen eingespart werden.

Der gemeinsame Unterricht kann nur gelingen, wenn die Lehrkräfte und pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei dieser Reform ausreichend unterstützt werden. Sie sollen deshalb durch vorbereitende und unterrichtsbegleitende Fortbildungen für die Arbeit in heterogenen Klassen mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf qualifiziert werden. Regionale Fachkonferenzen für die jeweiligen Förderschwerpunkte organisieren Fortbildung und Supervision für die Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen und die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

 

 

Fraktionsvorsitzender

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