Antrag: Fachlich fundierte Reaktionen auf Jugendkriminalität

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Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
Hannover, den 18.06.2003

Der Landtag wolle beschließen:
Entschließung

Seit Anfang der 90er Jahre zeigen sich neue Phänomene der Jugendkriminalität in unserer Gesellschaft . Die Politik muß auf entsprechende Entwicklungen entschlossen und human reagieren. Maßstab der Reaktion müssen fachlich untermauerte und empirisch abgesicherte Konzepte sein.
Die Landesregierung wird daher aufgefordert
1. sich dafür einzusetzen, dass straffällige Heranwachsende im Alter zwischen 18 und 21 Jahren zukünftig ausschließlich nach dem zielgenauen und effektiven Jugendstrafrecht zu sanktionieren sind und Forderungen nach prinzipieller Verurteilung nach dem Erwachsenenstrafrecht eine klare Absage zu erteilen,
2. "Warnschussarrest" und analogen repressiven Maßnahmen ohne empirische Grundlage für die Sinnhaftigkeit und Nachhaltigkeit eine klare Absage zu erteilen.
3. Ambulante soziale Trainings nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) weiterhin ausreichend zu fördern und die existierende soziale Infrastruktur in diesem Bereich in Niedersachsen aufrecht zu erhalten.
Begründung:
Die Gründe für Jugendkriminalität sind multikausal und nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen. U.a. sind mangelnde Integration von Migranten, eine hohe Arbeitslosigkeit bzw. Ausbildungsplatzmangel, Erziehungsdefizite und Verunsicherung bei Eltern, eine ungenügende Medienkompetenz bei Jugendlichen und Kindern und eine hohe Quote von Vereinzelung ursächlich. Nicht zuletzt hat die irrationale z.T. hysterisierende mediale Inszenierung von Jugendkriminalität zugenommen. Die Politik sollte auf derlei Berichterstattung nicht aktionistisch und symbolisch reagieren, sondern rational und reflexiv.
Die herrschende Meinung in der kriminologischen und strafrechtlichen Forschung erteilt Forderungen nach einer Verschärfung des Jugendstrafrechts eine klare Absage und hält entsprechende Vorschläge für nicht zielführend.
Vielmehr haben sich sowohl der Deutsche Juristentag 2002 als auch der Fachverband Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ) für eine ausschließliche Anwendung des Jugendstrafrechtes für Heranwachsende im Alter von 18-21 ausgesprochen. Die generelle Einbeziehung Heranwachsender bedeutet Rücksichtnahme auf Eigenheiten und Veränderungen in der Sozialisation dieser Altersstufe. Die Jugendphase ist insgesamt länger, komplexer, risiko- und konfliktbeladener geworden. Für Wissenschaftler und Praktiker gibt es keinen stichhaltigen Grund, Heranwachsenden das keineswegs durchweg mildere, jedoch flexiblere, altersangemessene, bewährte Jugendstrafrecht vorzuenthalten. Es ist falsch, wenn der Rechtsprechung vorgeworfen wird, sie sei zu milde; sie ist vielmehr qualitativ anders, stärker auf (Nach) Erziehung, soziale Stabilisierung – und damit auf längere Sicht auch auf geeigneteren Schutz der Allgemeinheit – ausgerichtet.
Alle seriösen Studien zeigen, dass gerade der Vollzug bei jungen Menschen in den wenigsten Fällen einen Beitrag zur Resozialisierung leistet, sondern die kriminelle Karriere zumeist zementiert.
Auch so genannte Warnschussarreste bei Jugenddelinquenz sind nicht erfolgsversprechend. Die kurzfristige Unterbringung in einer Arrestanstalt hat keine irgendwie geartete positive "Schockwirkung", die empirisch belegt werden könnte.
Abschrecken kann Kurzinhaftierung allenfalls kurzfristig. Neuerliche Versuche in anderen Ländern mit entsprechenden Konzepten haben den gewünschten Effekt nicht gebracht. Vielmehr waren Gewöhnungseffekte, Trotzreaktionen und das negative Lernen aus dem Gefängnismilieu das Resultat.
Wenn geringere Rückfallraten angestrebt werden, müssen überschießende repressive Sanktionen unterbleiben, da gerade diese häufig kontraproduktiv wirken.
Die geltende Rechtslage hält genügend Maßnahmen bereit, um von Seiten des Staates angemessen zu reagieren. Um "den Ernst der Lage " zu verdeutlichen sind sinnvolle Arbeitsauflagen besser und effektiver. Es muss auch in Zukunft der Grundsatz: Erziehung statt Strafe statt Erziehung durch Strafe im Jugendstrafrecht maßgeblich sein.
Durch ambulante sozialpädagogische Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) werden in Niedersachsen ca. 5000 Jugendliche zielgruppenspezifisch und bedarfsgerecht mit einer kostengünstigen und nachhaltigen Maßnahme erreicht. Als zentralen pädagogischen Ansatz verfolgen sie die Integration von Jugendlichen in eine Lebenswelt, die die weitere Begehung von Straftaten verhindert und das Legalverhalten intendiert. Jugendarrest und Jugendhaft sind erheblich teurer und zudem in ihren Wirkungen kontraproduktiv wie eine Vielzahl von Studien belegt.
Kurzfristige drastische Sparmaßnahmen bei den Trägern und Anbietern von ambulanten sozialen Maßnahmen mit dem Effekt, dass diese Projekte eingestellt werden müssen, bringen mittelfristig erhebliche Mehrkosten mit sich. Eine ambulante Fördermaßnahme kostet pro Teilnehmer 2,52 Euro, während ein Tag Jugendarrest den Landeshaushalt mit ca. 70 Euro und ein Tag Jugendstrafhaft mit 90 Euro belastet.
Es liegt daher im Interesse eines auf Resozialisierung und Erziehung angelegten Jugendstrafrechtes, entsprechende Maßnahmen weiterhin zu fördern, als auch im Interesse einer auf Konsolidierung und Nachhaltigkeit ausgerichteten Finanzpolitik.
Daneben ist eine breit angelegte Präventionsarbeit eine zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe, da Integration, Aufbau von Identität, Selbstbewusstsein und multiethnisches Miteinander gefördert werden.
Fraktionsvorsitzende

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