Antrag: Auswanderungstrend stoppen – Zuwanderung erleichtern

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Hannover, den 09.03.2011

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

  • Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes sind mehr Menschen aus Deutschland fortgezogen als zugewandert; rund 721.000 Menschen kamen hierher, aber etwa 734.000 verließen gleichzeitig das Land. So ziehen seit 2008 mehr Menschen aus Deutschland weg, als im gleichen Zeitraum zuziehen. Auch im Wettbewerb um die weltweit klügsten Köpfe ist Deutschland nicht nur weit zurückgefallen; Deutschland verliert derzeit sogar mehr Fachkräfte als zuwandern. In Niedersachsen haben wir seit dem Jahr 2005 bei 18- bis 30-jährigen Menschen fast ausschließlich einen negativen Wanderungssaldo. Im Jahr 2008 war der Wanderungssaldo auch bei Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit insgesamt negativ (- 4.378 Personen) und in 2009 mit 16 Personen nur minimal positiv.
  • Angesichts der absehbaren demografischen Entwicklung und des daraus resultierenden Rückgangs der Erwerbspersonenzahl müssen ein kluger Mix aus Bildung, Qualifizierung, Aktivierung zurzeit nicht genutzter Fachkräftepotenziale sowie die Neuregelung der Einwanderung auf den Weg gebracht werden.
  • Zuwanderung ist einer der Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg – für Deutschland und für die Zuwandernden. Die von Deutschland und Niedersachsen Angesprochenen müssen als Menschen wahrgenommen werden. Eine Klassifizierung rein nach Arbeitskraft, Alter, Größe oder anderen arbeitsbezogenen Merkmalen wäre verfehlt. Auch familiäre, kulturelle, humanitäre und ethische Zusammenhänge sind heute zu betrachten, damit alle Aspekte einer modernen und menschlichen Migrationspolitik berücksichtigt werden. Die Fehler aus dem vor 50 Jahren unterzeichneten Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei dürfen nicht wiederholt werden.

Für die Förderung und Steuerung der Einwanderung benötigen wir ein klares, transparentes, zusammenhängendes und nachvollziehbares Zuwanderungskonzept. Dazu gehören auch die Herausbildung einer Willkommenskultur und die Gestaltung eines Klimas der Anerkennung und der Offenheit.

Folgende Maßnahmen sind erforderlich:

1. Zuwanderungsgesetz modernisieren

  • Die Bundesregierung soll ein Konzept für ein Punktesystem vorlegen, das die Zuwanderung nach zusammenhängenden, klaren, transparenten und gewichteten Kriterien gestaltet. Hierbei sind vor allem die innen-, wirtschafts-, sozial-, arbeitsmarkt-, bildungs- und forschungspolitischen Aspekte zu einem Gesamtkonzept zusammenzuführen.
  • In den Ausländerbehörden muss diesbezüglich ein Umdenken erfolgen weg von der vorherrschenden Abwehrhaltung, die sich auszeichnet durch eine gewisse Anspruchshaltung gegenüber den Kunden und die auf das Errichten von Hürden gerichtet ist, hin zu einer Dienstleistungskultur, die auf Angebote, Hilfestellungen und die Beseitigung von Hindernissen ausgerichtet ist.
  • Derzeit müssen Hochqualifizierte für eine Niederlassungserlaubnis in der Regel mindestens 66.000 Euro verdienen. Notwendig ist die sofortige Absenkung der Mindestgehaltsgrenze für die Niederlassungserlaubnis für Hochqualifizierte im Aufenthaltsgesetz auf 40.000 Euro.
  • Auch Deutschland muss einen angemessenen Beitrag zur Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen leisten und ein auf Dauer angelegtes deutsches Resettlement-Programm als Bestandteil eines gemeinsamen Neuansiedlungsprogramms der EU-Mitgliedstaaten initiieren.

2.  Perspektive Staatsangehörigkeit

  • Die Einbürgerungsquote muss angehoben und für die Einbürgerung muss im Rahmen einer Kampagne verstärkt und aktiv geworben werden.
  • Doppelte Staatsangehörigkeiten müssen generell erleichtert und der Optionszwang aufgehoben werden.

3. Abwanderungsgründe untersuchen

Die Gründe für die Abwanderung aus Deutschland und Niedersachsen müssen näher untersucht werden. Hierüber ist dem Landtag zu berichten.

4. Anwerbekonzept und Marketing

Es sind Strategien zur Umkehr des Abwanderungstrends zu erarbeiten. Die Landes- und Bundesregierungen müssen, gemeinsam mit der Wirtschaft, den Kammern und den Migrantenselbstorganisationen, ein Anwerbekonzept für ZuwanderInnen aus dem Ausland erstellen und dieses zu einer Marke entwickeln, die sich am kanadischen Vorbild orientiert.

5. Visumvergabepraxis für Studierende überprüfen

Die Visumvergabepraxis in den deutschen Botschaften für ausländische Personen, die in Deutschland studieren möchten, ist zu restriktiv. Auch hier ist eine ausgeprägte Willkommenskultur zu entwickeln, die den Dienstleistungscharakter in der Visabearbeitung betont.

6. Wahlfreiheit für ausländische HochschulabsolventInnen

Es ist zu evaluieren, inwieweit die aktuellen aufenthaltsrechtlichen Regelungen für HochschulabsolventInnen aus Drittstaaten Anreiz genug sind, nach einem erfolgreichen Studium hier einen Arbeitsplatz aufzunehmen. Zu viele AbsolventInnen aus Drittstaaten müssen Deutschland nach ihrem Hochschulabschluss verlassen. Es sind Gegenstrategien zu entwickeln und die rechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen. Aufenthaltserlaubnisse müssen frühzeitiger erteilt werden. Ihre Laufzeit muss sich an den Regelstudienzeiten orientieren. Erwerbsmöglichkeiten während des Studiums sind zu erweitern. Die Gültigkeitsdauer der Aufenthaltserlaubnis zur Suche eines angemessenen Arbeitsplatzes für ausländische AbsolventInnen deutscher Hochschulen ist auf zwei Jahre zu verlängern. An den Universitätsstandorten sind Kooperationen zwischen den Ausländerbehörden und den Universitäten zu etablieren, die auf eine qualifizierte, schnelle und hilfsbereite Beratung von ausländischen Studierenden ausgerichtet sind. Das Ausländerbüro der Stadt Oldenburg wurde für eine entsprechende Ausrichtung preisgekrönt und kann als Beispiel dienen.

7. Diaspora – Potenziale von ImmigratInnen für die Entwicklung der Herkunftsländer nutzen

Es ist darauf hinzuwirken, dass das Problem des Brain Drain (Abwanderung von Fachkräften) aus Entwicklungsländern bei der Zuwanderung Berücksichtung findet. Geeignet wären aufenthaltsrechtliche Erleichterungen (z. B. in Form einer Rückkehroption), damit MigrantInnen, die in Deutschland leben, in ihren Herkunftsländern z. B. arbeiten oder investieren bzw. wissenschaftlich tätig sein können, ohne ihren legalen Aufenthaltsstatus in einem EU-Mitgliedstaat zu verlieren. Entwicklungspolitisch sinnvolle Existenzgründungen und Auslandsinvestitionen von Diaspora-Unternehmen sollten über die Organisationen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gezielt gefördert werden.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf, in diesem Sinne – auch auf Bundes- und Europaebene - tätig zu werden.

Begründung

Bereits die Süssmuth-Kommission, die im Jahr 2000 eingesetzt wurde, hat vor den Folgen des demografischen Wandels gewarnt und in ihrem vorgelegten Bericht "Zuwanderung gestalten – Integration fördern"  ein bundeseinheitliches Punktesystem zur Steuerung der Zuwanderung empfohlen. Heute melden immer mehr Wirtschaftsbereiche in Deutschland einen wachsenden Fachkräftemangel. Das Potenzial an Arbeitskräften wird nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in den kommenden fünfzehn Jahren um 3,6 Millionen Personen schrumpfen. Im selben Zeitraum wird der Arbeitskräftebedarf deutlich ansteigen. Wenn es nicht gelingt, diese Lücke an qualifizierten Arbeitskräften zu schließen, droht ein dramatischer Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Unterbeschäftigung.

Verstärkt wird dieser Trend durch die hohen Abwanderungszahlen aus Niedersachsen. Beweggründe für die Auswanderung von Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland sind mangelnde Partizipationsmöglichkeiten, das Gefühl nicht erwünscht zu sein, Ausgrenzung, teilweise bessere berufliche Möglichkeiten im Herkunftsland aufgrund der Mehrsprachigkeit. Auch Menschen ohne Migrationshintergrund sehen im Ausland oftmals bessere Karrieremöglichkeiten, z.B. aufgrund höherer Forschungsinvestitionen und daraus sich ergebender besserer Bezahlung und besserer Forschungsbetreuung, und günstigere Bedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Deutschland leidet nicht mehr unter einem Erkenntnisdefizit, sondern unter einem Handlungsdefizit. Dabei muss die Perspektive unserer Zuwanderungspolitik auf die Bedürfnisse der Zuwanderungswilligen gerichtet werden und nicht umgekehrt.

Niedersachsen muss sich daher aktiv auf  Bundesebene für ein modernes Zuwanderungsgesetz einsetzen Damit unser Sozialsystem nicht zusammenbricht und der Fachkräftebedarf gedeckt werden kann, ist Niedersachsen auf Einwanderung angewiesen. Gesteuert, unbürokratisch und transparent kann Zuwanderung nur durch die Einführung eines zusammenhängenden und einfachen Kriterienkatalogs (Punktesystem) gestaltet werden. Hierfür soll auf Grundlage einer Bedarfsanalyse ein Qualifikationsprofil entwickelt und mit Punkten entsprechend bewertet werden. AusländerInnen, die durch dieses Auswahlverfahren ihre Qualifikation und Integrationsfähigkeit unter Beweis gestellt haben, ist in Deutschland eine dauerhafte Einwanderungsperspektive zu eröffnen. Sinnvoll ist es, nationale Modelle zur Punktemigration auf europäischer Ebene zu koordinieren, um Reibungsverluste zu vermeiden. Bei den Überlegungen zum Punktesystem ist aber zu bedenken, dass in Kanada – und diese Werte dürften in Deutschland ähnlich ausfallen - nur etwa 55 Prozent der dauerhaft Zugewanderten als ArbeiterInnen, Selbstständige oder Investoren über das Punktesystem einwandern. 28 Prozent machen Angehörige aus und etwa 13 Prozent Flüchtlinge.

Das Resettlement, also die Neuansiedlung von Flüchtlingen, bietet eine dauerhafte Lösung, um Flüchtlingen einerseits eine neue Lebensperspektive zu bieten und dem aufnehmenden Staat andererseits eine geregelte Zuwanderungsquelle zu erschließen. Das Resettlement wird von der EU als gewichtiges flüchtlingspolitisches Instrument gefördert. Der UNHCR hält eine Ausweitung der verfügbaren Neuansiedlungskapazitäten für dringend erforderlich. In einer Reihe von Staaten wie zum Beispiel in den USA, Kanada, Schweden oder Norwegen werden entsprechende Programme seit Jahren durchgeführt.

Im Wettbewerb mit anderen Ländern müssen die staatlichen Stellen zusammen mit weiteren Institutionen analog zum kanadischen Modell sich weltoffen, multikulturell und vielfältig - im Ausland gegenüber interessierten, qualifizierten BewerberInnen präsentieren. Dies kann die Auslandsvertretungen, Organisationen der Wirtschaft, Hochschulen, Forschungsverbünde oder Goethe-Institute erfolgen. Dabei soll zunächst über ein Kompetenzzentrum der Bedarf im jeweiligen Land ermittelt und ein entsprechendes mehrsprachiges Internetportal entwickelt werden, in das auch die Verbände ihre Erfahrungen mit einfließen lassen können. Unternehmen werden in ihrer Suche nach ArbeitnehmerInnen im Ausland von staatlicher Seite unterstützt, etwa durch die deutschen Botschaften und die Goethe-Institute, da die Zuwanderung im gesamtwirtschaftlichen Interesse Deutschlands liegt und ein politisches Interesse daran besteht, dem demographischen Faktor einer überalterten Gesellschaft und damit ausblutenden Sozialsystemen entgegen zu wirken.

Auch aufgrund der restriktiven Behördenpraxis kommen nach Niedersachsen nur wenige qualifizierte Einwanderer. Eine kleine Anfrage der grünen Bundestagsfraktion anlässlich der Visumsverweigerung für ausländische Studierende zeigt, dass die deutschen Botschaften im Auftrag der Bundesregierung mit aberwitzigen Argumenten den Zuzug von klugen Köpfen regelrecht bekämpft. Daneben kann die Abwanderung von Fachkräften aus den Herkunftsländern aber das Problem des "Brain Drain" verursachen, also den Verlust von qualifizierten Fachleuten insbesondere in wirtschaftlich schwächeren Ländern, die nicht die Mittel haben Ihre Talente zu halten. Die enorme Bedeutung der Diaspora für die wirtschaftliche Entwicklung vieler Länder ist allerdings erst in den letzten Jahren international erkannt worden. Positive Effekte sind Rücküberweisungen des hier erzielten Einkommens, die Anbahnung von Geschäftsbeziehungen, Investitionen und Know-how-Transfer.

Die Entscheidung, wo die Menschen leben und arbeiten wollen, muss ihnen überlassen bleiben. Wichtig ist dabei aber die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sie diese Entscheidung frei und möglichst unabhängig von wirtschaftlichen Zwängen oder Nachteilen für sie selbst, ihre Familien oder die Gesellschaft in ihrem Herkunftsland treffen können.

Stefan Wenzel
Fraktionsvorsitzender

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