Antrag: Abschiebungspraxis entschärfen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

Seit Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Große Koalition im Bund und auch in Niedersachsen ist ein Trend zu vermehrten Abschiebungen und einem rücksichtsloseren Vorgehen bei Abschiebungen und Abschiebungshaft festzustellen. In ihrem Schreiben vom 16. Mai 2019 an die Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags hat die Menschenrechtskommissarin des Europarates, Dunja Mijatovic, deutliche Kritik an diesem Trend geäußert und darauf hingewiesen, dass sich die Zahl der Abschiebungshäftlinge in Deutschland von 2015 bis 2017 verdoppelt hat, die Zahl der durchgeführten Abschiebungen jedoch stabil geblieben ist. Sie wolle deshalb dazu ermutigen, Alternativen zur Abschiebungshaft zu suchen.

Abschiebungen sind für die Betroffenen eine extrem belastende Ausnahme- und Zwangssituation, die ausschließlich als Ultima Ratio in Betracht kommen dürfen. Ebenso darf auch die Abschiebungshaft ausschließlich das letzte Mittel zur Sicherung der Ausreise und keine Sanktion für eine Straftat sein. Abschiebungen und Abschiebungshaft sind deshalb so wenig belastend wie möglich und einhergehend mit der Gewährung größtmöglicher Freiheiten zu gestalten. Kinder, Jugendliche, Familien, Schwangere und andere vulnerable Personen sind optimal zu schützen und ihre besonderen Bedürfnisse zu berücksichtigen. Die Zahlen zu rechtswidriger Abschiebungshaft zeigen deutlich, dass Abschiebungshaft zu häufig und zu lange angeordnet wird.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf, die Abschiebungspraxis in Niedersachsen durch folgende Maßnahmen zu entschärfen:

  • Nächtliche Abschiebungen: Abschiebungen sind ausnahmslos so zu terminieren, dass der Abholungstermin ganzjährig in der Zeit zwischen 6 und 21 Uhr festgelegt werden kann.
  • Kranke: Abschiebungen sind ausnahmslos auszusetzen, wenn abzuschiebende Personen sich aufgrund physischer oder psychischer Erkrankungen in stationärer Behandlung befinden. Im Übrigen dürfen kranke Personen nur dann abgeschoben werden, wenn die Erteilung einer Duldung aus humanitären Gründen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar ist. Die Ausländerbehörden sind anzuhalten, bei der Bearbeitung ausländerrechtlicher Fälle humanitäre und gesundheitliche Aspekte verstärkt zu berücksichtigen. Zudem muss sichergestellt sein, dass während des gesamten Abschiebungsvorgangs ein Arzt oder eine Ärztin anwesend ist und alle erforderlichen Hilfsmittel (etwa Gehilfe, Rollstuhl) und Heilmittel (insbesondere Medikamente) - auch für eine Anschlussversorgung - verfügbar sind.
  • Familien: Wenn minderjährige Kinder von einem Elternteil oder den Eltern getrennt würden, ist aufgrund der hohen Bedeutung der Wahrung der Familieneinheit die eingeleitete Maßnahme ausnahmslos auszusetzen und die eingeleitete Abschiebung abzubrechen. Eltern dürfen während der Abschiebung in Anwesenheit ihrer Kinder nicht gefesselt werden.
  • Kinder und Jugendliche: Kinder und Jugendliche dürfen nicht aus der Schule, Jugendhilfeeinrichtung oder Kindertagesstätte heraus abgeschoben werden. Dies gilt auch, wenn es sich um junge Erwachsene handelt, die zur (Berufs-)Schule gehen und/oder in einer Jugendhilfeeinrichtung leben. Wird festgestellt, dass sich Kinder oder Jugendliche in der Schule oder Kindertagesstätte befinden, wird – unabhängig vom Elternwillen – gleichwohl keine Abholung des Kindes durch Vollzugskräfte veranlasst; die Abschiebung ist in diesen Fällen ausnahmslos auszusetzen. Kinder und Jugendliche dürfen im Rahmen der Abschiebung nicht gefesselt werden. Bei der Abschiebung von Kindern und Jugendlichen ist überdies die Anwesenheit eines Vertreters oder einer Vertreterin des Jugendamts, eines Vormundes oder einer Vormundin oder einer anderen sozialpädagogisch ausgebildeten Person, die über den Schutz des Kindeswohls wacht, zu gewährleisten.
  • Hundeeinsatz: Die Anwesenheit von Hunden der Polizei oder anderer Behörden ist, außer bei Abschiebungen von Gewaltstraftäter*innen oder Gefährder*innen, nicht zulässig. Niedersächsische Behörden haben sich an Abschiebungen in Anwesenheit von solchen Hunden nicht zu beteiligen.
  • Informationen: Abzuschiebende Personen sind bei der Abholung ausnahmslos sofort, umfassend, schriftlich und in einer für sie verständlichen Sprache zumindest über den Ablauf der Abschiebung einschließlich der Flugzeiten sowie ihre Rechte während der Abschiebung zu informieren. Die schriftlichen Informationen ersetzen nicht die Übersetzung durch Dolmetscherinnen oder Dolmetscher im Fall von Verständigungsschwierigkeiten.
  • Kommunikation: Die Kommunikation zwischen den abzuschiebenden Personen und den Vollzugsbediensteten muss während der gesamten Maßnahme – gegebenenfalls durch Hinzuziehung qualifizierter Dolmetscher*innen – gewährleistet sein.
  • Gepäck: Abzuschiebenden Person ist es zu ermöglichen, persönliche Gegenstände einzupacken. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass insbesondere Ausweispapiere, notwendige Medikamente, Versorgungsmittel für Kinder sowie notwendige Hilfsmittel wie Brillen in jedem Fall eingepackt werden. Es ist sicherzustellen, dass abzuschiebende Personen situationsgerecht und für den Zielstaat angemessen gekleidet sind. Grundlegende Hygieneartikel sowie ausreichende Kleidung sind bereitzuhalten und bei Bedarf auszuhändigen.
  • Rechtsbeistand: Abzuschiebenden Personen ist Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewähren. Der Kontakt zum Rechtsbeistand ist zu Beginn der Abschiebung zu ermöglichen, so dass gegebenenfalls rechtliche Maßnahmen rechtzeitig ergriffen werden können. Für den Fall, dass abzuschiebende Personen bisher keinen Kontakt zu einem Rechtsbeistand hatten, sind ihnen die Kontaktdaten eines Rechtsanwaltsnotdienstes mitzuteilen.
  • Telefonate: Abzuschiebenden Personen ist die Möglichkeit zu gewähren, Verwandte oder Freunde zu kontaktieren.
  • Mobiltelefone: Abzuschiebenden Personen ist es zu gestatten, während der Abschiebung ihr Mobiltelefon zu nutzen. Die Sicherstellung eines Mobiltelefons während der Abschiebung darf nur im begründeten Einzelfall erfolgen. Liegen die Voraussetzungen für die Sicherstellung nicht mehr vor, sind die Mobiltelefone wieder herauszugeben. Vor der Sicherstellung ist den abzuschiebenden Personen die Gelegenheit zu geben, sich relevante Telefonnummern zu notieren.
  • Verpflegung: Essen und Getränke müssen während der gesamten Abschiebungsmaßnahme in ausreichender Menge verfügbar sein.
  • Handgeld: Den abzuschiebenden Personen sind ausreichend finanzielle Mittel für die Weiterreise vom Flughafen bis zum endgültigen Zielort und die für diese Strecke notwendige Verpflegung auszuhändigen.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf, die Abschiebungshaftpraxis in Niedersachsen durch folgende Maßnahmen zu entschärfen:

  • Vulnerable Personen: Kinder und Jugendliche, physisch oder psychisch Kranke, Schwangere, Alleinerziehende, Personen ab dem 65. Lebensjahr sowie Menschen mit Behinderung werden ausnahmslos nicht in Abschiebungshaft genommen, auch nicht für andere Bundesländer. Hinweisen auf die Zugehörigkeit von zu Inhaftierenden zu diesen Gruppen ist unverzüglich nachzugehen.
  • Medizinische Versorgung: Es ist eine medizinische Versorgung, die national und international anerkannten Behandlungsstandards entspricht, für alle Gefangenen zu gewährleisten. Zudem muss bei allen Gefangenen eine ärztliche Zugangsuntersuchung durchgeführt werden. Um sicherzustellen, dass auch Hinweise auf Traumatisierungen und psychische Erkrankungen erkannt werden, ist stets ein Psychologe/Psychiater oder eine Psychologin/Psychiaterin in die Zugangsuntersuchung einzubeziehen. Bei Verständigungsschwierigkeiten ist ausnahmslos ein qualifizierter Dolmetscherdienst hinzuzuziehen. Die Übersetzung durch Mitgefangene oder Vollzugsbedienstete ist aus Gründen der Vertraulichkeit, potenzieller Rollenkonflikte und der Gefahr von Übersetzungsmängeln unzulässig.
  • Gefährder: Die Landesregierung schafft unverzüglich ein Reglement für den Umgang mit Gefährdern in Abschiebungshaft, das die derzeitige niedersächsische Vollzugspraxis in keiner Weise verschärft, den Gefangenen alle rechtsstaatlichen Möglichkeiten zur Wahrnehmung ihrer Rechte gewährt, berücksichtigt, dass weder Gefährder noch andere Abschiebungsgefangene Strafgefangene sind und Einzelhaft sowie die damit verbundene psychisch belastende Isolation vermeidet. Abschiebungsgefangene dürfen nach europäischem Recht nicht gemeinsam mit Strafgefangenen inhaftiert und daher auch nicht wie solche behandelt werden.
  • Abschiebungshaftvollzugsgesetz: Die Landesregierung legt unverzüglich einen Entwurf für ein Abschiebungshaftvollzugsgesetz und, falls erforderlich, auch für eine Abschiebungshaftvollzugsverordnung vor, die die Rechte der Gefangenen verbindlich regeln und ihnen größtmögliche Freiheiten gewähren. Dabei haben das Gesetz und die Verordnung der Prämisse „Wohnen minus Freiheit“ zu folgen, so dass sämtliche Freiheitsbeschränkungen, die nicht unmittelbar der Sicherung der Abschiebung dienen, nicht in das Gesetz oder die Verordnung aufgenommen werden dürfen. Auch hier ist zu berücksichtigen, dass Abschiebungsgefangene keine Strafgefangene sind und die Vollzugsbedingungen in der Abschiebungshaft sich deshalb merklich von denen der Strafhaft unterscheiden müssen.
  • Anstaltsbeirat: Die Landesregierung unterstützt und schafft umgehend alle Voraussetzungen für die Gründung eines Anstaltsbeirats in der Abteilung Langenhagen. Darüber hinaus ist in der Abteilung Langenhagen eine unabhängige Beschwerdestelle einzurichten, die über umfassende Zugangs-, Prüf- und Ermittlungsbefugnisse verfügt.
  • Rechtsberatung: Das Land übernimmt wieder die Finanzierung der Abschiebungshaftberatung mindestens in dem bis Juli 2018 geltenden Umfang. In diesem Zusammenhang ist den die Beratung anbietenden Personen umfassender Zugang zu den Abschiebungsgefangenen zu gewähren. Das Recht auf eine Anwältin oder einen Anwalt ist für alle Abschiebegefangenen zu gewährleisten. 
  • Fortbildungen: Die Schulung und Fortbildung von Richter*innen und Mitarbeiter*innen in den Ausländerbehörden zum Recht der Abschiebungshaft wird deutlich ausgeweitet. Das Personal in der Abschiebungshaftanstalt ist speziell für diesen Bereich auszuwählen und interkulturell zu sensibilisieren und zu schulen. Auch in der Abschiebungshaft ist der Zugang zum kürzlich für den Justizvollzug eingerichteten Videodolmetschen zu ermöglichen.

Begründung

Immer wieder zeigen Fälle von dramatischen Situationen bei Abschiebungen und Beschwerden aus der Abschiebungshaft die außerordentliche Belastung der Betroffenen durch diese Vorgänge. Auch belegen von der Landesregierung auf Anfrage gelieferte Zahlen, dass nächtliche Abschiebungen keineswegs nur die Ausnahme sind. Familientrennungen durch Abschiebungen und die Inhaftierung von vulnerablen Personen in Abschiebungshaft sind nur grundsätzlich, aber nicht in jedem Fall ausgeschlossen. Kinder leiden in Abschiebungssituationen übermäßig aufgrund des Eindringens in den geschützten Bereich der Wohnung durch fremde Personen, häufig nachts, und die Erfahrung der Machtlosigkeit und der Schutzlosigkeit. Die Anwesenheit von Polizeihunden verschärft die Situation für Erwachsene aber insbesondere auch für Kinder über die Maße. An diesen Stellen besteht dringender Handlungsbedarf im Interesse der Schutzbedürftigen.

So sind Abschiebungen so zu terminieren, dass sie nicht zur Nachtzeit beginnen. Bisher sollte auch auf die Ankunftssituation im Zielland Rücksicht genommen und eine Ankunft dort in der Nacht vermieden werden. Da sich beides in einer Vielzahl der Fälle nicht miteinander vereinbaren ließ, kam es sehr häufig doch zu nächtlichen Abschiebungen. Diese werden von den Betroffenen jedoch deutlich belastender wahrgenommen als die nächtliche Ankunft, so dass zukünftig im Zweifel eine nächtliche Ankunft hinzunehmen und ein Beginn der Abschiebung zur Nachtzeit in jedem Fall, also entgegen der bisherigen Praxis ausnahmslos, zu vermeiden ist. Die zukünftig zu verwendende Definition der Nachtzeit entspricht derjenigen des Niedersächsischen Verwaltungsvollstreckungsgesetzes und der Zivilprozessordnung und bedeutet eine Abwendung von der bisher an das Strafverfahrensrecht angelehnte Definition, denn Abzuschiebende sind per se keine Straftäter*innen und auch nicht so zu behandeln.

Die gegenwärtige niedersächsische Erlasslage berücksichtigt die Situation physisch oder psychisch Kranker im Zusammenhang mit Abschiebungen nur unzureichend. Dies ist künftig durch eine Änderung des Rückführungserlasses zu ändern.

Die geltende niedersächsische Erlasslage soll Familientrennungen durch Abschiebungen weitgehend verhindern. Der Wortlaut lässt jedoch Ausnahmen zu, die zukünftig durch eine ausnahmslose Formulierung des Rückführungserlasses zu vermeiden sind.

Abschiebungen aus Einrichtungen, die Kindern, Jugendlichen oder jungen volljährigen Geflüchteten als Orte der Bildung oder/und des Kinder- und Jugendschutzes Perspektiven und Sicherheit bieten sollen, sind zu untersagen. Die Anwesenheit eines Vertreters oder einer Vertreterin des Jugendamts oder einer anderen sozialpädagogisch ausgebildeten Person in der konkreten Abschiebungssituation kann helfen, alle anwesenden für den Schutz des Kindeswohls zu sensibilisieren und diesen besser als bisher zu gewährleisten.

Gänzlich ungeregelt sind im Rahmen der geltenden Erlasslage die Rechte der abzuschiebenden Personen während des Abschiebungsvorgangs. Der Rückführungserlass ist daher um Regelungen zur Information über den Ablauf der Abschiebung, die Sicherstellung der Kommunikation zwischen den abzuschiebenden Personen und den Vollzugsbediensteten, zum Gepäck, zu Rechtsbeiständen, zu Telefonaten mit Angehörigen, zur Nutzung von Mobiltelefonen sowie zur Verpflegung und zum Handgeld zu ergänzen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat wiederholt betont, dass die Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz) ein besonders hohes Rechtsgut ist, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf. Der in Artikel 20 Absatz 3 GG verankerte Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gewährleistet in Verbindung mit dem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG eine umfassende Prüfung der Voraussetzungen für die Anordnung von Abschiebungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht (BVerfG, Beschluss vom 15. Dezember 2000, 2 BvR 347/00).

Kinder und Jugendliche gehören in (Aus-)Bildungseinrichtungen, Kranke und Schwangere in ärztliche Behandlung, Alleinerziehende zu ihren Kindern und Personen ab dem 65. Lebensjahr sowie Menschen mit Behinderung allenfalls in Fürsorgeeinrichtungen – und gerade nicht ins Abschiebegefängnis. Daher ist die Inhaftierung von Kindern und Jugendlichen, physisch oder psychisch Kranken, Schwangeren, Alleinerziehenden, Personen ab dem 65. Lebensjahr sowie Menschen mit Behinderung gänzlich zu unterlassen.

Nach einer 2018 veröffentlichten Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK über den Gesundheitszustand von Asylsuchenden in Deutschland haben rund drei Viertel der Asylsuchenden unterschiedliche Formen von Gewalt erlebt und sind oft mehrfach traumatisiert. Einige leiden unter Traumafolgestörungen wie PTBS, Depressionen, Angstzuständen und körperlichen Symptomatiken. Da viele Geflüchtete Gewalterfahrungen gemacht haben wie Gefangenschaft, Folter oder sexualisierte Gewalt, birgt jede Inhaftierung die Gefahr einer Retraumatisierung. Derweil ist die medizinische Versorgung in der Abschiebungshaftanstalt Langenhagen mangelhaft, da bei der - nur unregelmäßig stattfindenden - ärztlichen Sprechstunde nicht einmal Dolmetscher*innen anwesend sind, weshalb die körperliche und psychische Verfassung der Gefangenen nicht verlässlich diagnostiziert werden kann. Dies gilt es umgehend zu ändern.

Gefährder wurden inzwischen in Niedersachsen aufgrund einer Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG dreimal in Abschiebungshaft genommen. Diese Situation ist neu und bedarf einer Regelung, die die Rechte und Schutzinteressen aller Beteiligten berücksichtigt.

Ebenso nötig ist ein Abschiebungshaftvollzugsgesetz, das endlich die Rechte der Gefangenen verbindlich regelt und ihnen nur absolut unerlässliche Beschränkungen auferlegt. Während das Aufenthaltsgesetz regelt, unter welchen Voraussetzungen Ausländer*innen in Abschiebungshaft genommen werden dürfen, fehlt es in Niedersachsen an einem Abschiebungshaftvollzugsgesetz, das die Rechte der Gefangenen im Abschiebungsgefängnis verbindlich regelt – obgleich das Bundesverfassungsgericht bereits 1972 entschieden hat, dass es im Rahmen einer Freiheitsentziehung stets eines solchen parlamentarischen Gesetzes bedarf (BVerfGE, 33, 1). Das Niedersächsische Justizvollzugsgesetz ist im Rahmen des Abschiebungshaftvollzuges nicht anwendbar (vgl. § 1 NJVollzG). Der Rückgriff auf das Strafvollzugsgesetz des Bundes scheidet ebenfalls aus, da andernfalls das aus dem Trennungsgebot erwachsenden Abstandsgebot, wonach sich der Vollzug der Abschiebungshaft merklich vom Vollzug der Strafhaft unterscheiden muss, ad absurdum geführt werden würde. Abschiebungshaftgefangene sind keine Straftäter*innen und dürfen dementsprechend auch nicht wie solche behandelt werden.

Auch ein Anstaltsbeirat in Langenhagen würde zur Entschärfung der Situation beitragen. Die Nichtexistenz eines Beirats ist absolut ungewöhnlich und ein Zeichen für die randständige Situation der Abschiebungshaft und der dort Inhaftierten in Niedersachsen. Ein funktionierendes Beschwerdemanagement stellt einen essenziellen Bestandteil von Gewaltschutz und Konfliktprävention dar. Immer wieder kommt es sowohl unter den Gefangenen als auch zwischen Gefangenen und Bediensteten der Abschiebungshaftanstalt zu Konflikten, die sich kaum bzw. überhaupt nicht aufklären lassen. Eine unabhängige Beschwerdestelle mit Sitz in der Abschiebungshaftanstalt und regelmäßiger Sprechstunde ist zwingend notwendig, um Beschwerden nachzugehen, Vorwürfe aufzuklären und in Konfliktsituationen zu vermitteln.

Die Rechte der Abschiebungsgefangenen sind in Niedersachsen in Gefahr. Die regelmäßig von Rechtsanwalt Peter Fahlbusch veröffentlichen Zahlen zu rechtswidriger Abschiebungshaft belegen das unmissverständlich. Auch das Auslaufen der landesseitigen Finanzierung der Beratung in Abschiebungshaft hat mangelnde Interesse der Großen Koalition in Niedersachsen an einer möglichst wenig belastenden Situation für die Personen in der Abschiebungshaft verdeutlicht und die Situation in der Abschiebungshaft verschärft. Deshalb sind diverse Maßnahmen zum Schutz der Abschiebungsgefangenen zu ergreifen. So ist die Abschiebungshaftberatung wieder landesseitig zu finanzieren und den die Beratung anbietenden Personen umfassender Zugang zu den Abschiebungsgefangenen zu gewährleisten. Denn NGOs sind nicht nur die Schnittstelle der Gefangenen zur Außenwelt, sondern üben auch eine zivilgesellschaftliche Kontrollfunktion aus. Demgemäß ist NGOs der Zugang zu allen Gefangenen zu jeder Zeit, nur nicht zur Unzeit, zu gewähren. Außerdem ist NGOs der Zugang zu allen Räumen, die die Gefangenen auch betreten können (Gemeinschaftsräume, Hafträume, etc.) zu ermöglichen. Die Situation von Abschiebehäftlingen ist aufgrund ihrer Inhaftierung mit derjenigen von Untersuchungshäftlingen vergleichbar. Während Untersuchungshäftlinge einen Anspruch auf eine/n Pflichtverteidiger*in haben, ist dies bei Abschiebungshaftgefangenen nicht der Fall. Damit werden Abschiebehäftlinge schlechter gestellt als (mutmaßliche) Straftäter*innen. Zudem ist es für Abschiebungshäftlinge, die weder Rechts- noch Sprachkenntnisse besitzen, unmöglich, sich adäquat im Haft-, Asyl- und Ausländerrecht selbst zu vertreten. Schließlich fehlen Abschiebehäftlingen oftmals die finanziellen Mittel, um eine/n Rechtsanwält*in zu finanzieren. Die Schulung und Fortbildung von Richter*innen und Mitarbeiter*innen in den Ausländerbehörden zum Recht der Abschiebungshaft ist deutlich auszuweiten, denn die Zahlen belegen, dass immer noch zu häufig rechtswidrige Abschiebungshaft angeordnet wird. Dem kann man nur mit der Verbesserung der Rechtskenntnisse bei den beantragenden Ausländerbehörden und den anordnenden Gerichten beikommen. Schließlich ist auch das Personal in der Abschiebungshaftanstalt interkulturell zu sensibilisieren und zu schulen, damit im Haftalltag Missverständnisse vermieden und schwierige Situationen leichter gemeistert werden können.

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