Änderungsantrag: Doppelhaushalt 2022/2023: Frauen und Kinder besser vor Gewalt schützen – Aktionsprogramm zur Umsetzung der Istanbul-Konvention auflegen

 

Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - Drs. 18/10013

Der Landtag wolle den Antrag in folgender Fassung beschließen:

Entschließung

Doppelhaushalt 2022/23: Pandemiefolgen abfedern – Soziale Infrastruktur in Niedersachsen stärken, Migrationsberatung sichern und Gewaltschutz ausbauen

Menschen mit sozialen Herausforderungen sind von den Folgen der Corona-Pandemie in besonderem Maße betroffen. Dem 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zufolge haben Geringverdienende durch die Pandemie zusätzliche Einkommenseinbußen erfahren, für Erwerbslose hat sich der Zugang zum Arbeitsmarkt weiter erschwert. Suchterkrankungen haben insbesondere während des Lockdowns deutlich zugenommen, ebenso Gewalt gegen Frauen und Kinder, Wohnungslose als besonders vulnerable Gruppe konnten Hygieneregeln kaum einhalten, Kinder und Jugendliche haben massive Einschränkungen erlebt, ihre Eltern monatelangen Mehrfachbelastungen standgehalten.

Gleichzeitig waren soziale Unterstützungs- und Beratungsangebote phasenweise nur eingeschränkt verfügbar. Auch heute noch erschweren Hygienevorgaben in vielen Bereichen der Sozialen Infrastruktur den Zugang zu Hilfe.

Die soziale Infrastruktur in Niedersachsen war bereits vor der Corona-Pandemie stark beansprucht. Steigende Nachfrage nach Hilfe und Unterstützung, unsichere Finanzierung, fehlende Dynamisierung und der Mangel an qualifizierten Fachkräften fordern die Einrichtungen schon lange heraus. Die Corona-Pandemie hat sowohl die Nachfrage als auch die finanzielle Unsicherheit weiter erhöht.

Der Landtag würdigt vor diesem Hintergrund die besondere Leistung von Beratungsstellen, Frauenhäusern und anderen Hilfsangeboten in der Corona-Pandemie und das anhaltende Engagement für die Interessen von Menschen mit besonderen Herausforderungen.

Gleichzeitig kritisiert der Landtag die Kürzungen bei der sozialen Infrastruktur und insbesondere die existenzgefährdenden Einschnitte bei Integrationsarbeit und Migrationsberatung, die die Landesregierung in ihrem Haushaltsplanentwurf für die Jahre 2022 und 2023 vornimmt.

Der Landtag stellt fest:

  • Eine tragfähige soziale Infrastruktur ist Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt, Chancengerechtigkeit und gleichwertige Lebensverhältnisse.
  • Die Migrationsberatung ist für eine gelingende Integration unerlässlich. Eine ausreichende Finanzierung ist Vorrausetzung für eine erfolgreiche Bewältigung der Daueraufgabe Integration.
  • Der Bedarf an Schutz, Beratung, Unterstützung und Präventionsarbeit für Frauen, die von Gewalt betroffen sind, kann durch das unzureichend ausgestattete Hilfenetzwerk derzeit nicht ausreichend aufgefangen werden. Eine Strategie zur Umsetzung der Istanbul Konvention fehlt in Niedersachsen bisher.
  • Die soziale Infrastruktur in Niedersachsen war schon vor der Corona-Pandemie besonders beansprucht und nicht ausreichend verlässlich finanziert.
  • Die Corona-Pandemie hat soziale Ungleichheiten weiter verschärft.
  • Zur Bewältigung der Pandemiefolgen muss im Haushalt für die Jahre 2022 und 2023 ein Aufwuchs zur Stärkung der sozialen Infrastruktur, insbesondere der Angebote für arme Menschen, Migrant*innen, von Gewalt betroffene Frauen und Kinder, Suchtkranke, Erwerbslose, Wohnungslose, Kinder, Jugendliche und Familien erfolgen.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. die soziale Infrastruktur für Menschen mit besonderen Herausforderungen in Niedersachsen gemeinsam mit den relevanten Akteur*innen auf ihre Bedarfsgerechtigkeit hin zu untersuchen, Lücken zu identifizieren und Ausbauziele zu definieren, und dabei insbesondere die Unterstützung von Familien in erschwerten sozialen Lagen, den Schutz von Frauen, Kindern und Jugendlichen vor Gewalt und die Beratung von Migrant*innen, Erwerbslosen und Menschen mit Suchtproblemen und -krankheiten in den Fokus zu nehmen,
  2. sachgerechte Maßnahmen vorzuschlagen, um die soziale Infrastruktur in Niedersachsen unter Berücksichtigung der Trägervielfalt zu stärken und verlässlich zu sichern,
  3. die formalen Voraussetzungen für eine Stärkung der sozialen Infrastruktur, insbesondere der niedrigschwelligen Beratungs- und Unterstützungsangebote zu schaffen und dafür beispielsweise Förderrichtlinien anzupassen, Personalschlüssel zu verbessern und langfristige Vereinbarungen zu ermöglichen,
  4. im Hinblick auf die Situation von Frauen und Kindern, die von Gewalt betroffen sind,
    a.      in Zusammenarbeit mit den relevanten Akteur*innen eine Strategie zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Niedersachsen zu erarbeiten, die folgende Schwerpunkte beinhaltet:
    b.      die neue Richtlinie über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung von Maßnahmen für Frauen und Mädchen, die von Gewalt betroffen sind, die am 1.1.2022 in Kraft treten soll, zu nutzen, um den Gewaltschutz für Frauen in Niedersachsen zu verbessern und dafür mindestens den Betreuungsschlüssel in Schutzeinrichtungen von 1:8 zu erhöhen, die psychosoziale Begleitung und Betreuung von mitbetroffenen Kindern entsprechend zu berücksichtigen und finanziell zu hinterlegen, sowie auf eine Regelung zur Aufenthaltsdauer in Frauenhäusern zu verzichten,
    c.      die Förderung der Koordinierungsstelle der niedersächsischen Frauen- und Mädchenberatungsstellen gegen Gewalt als wichtigen Baustein zur Umsetzung der Istanbul-Konvention über die Projektlaufzeit von 3 Jahren hinaus zu verstetigen,
    d.      eine Koordinierungsstelle an geeigneter Stelle in der Landesverwaltung einzurichten, die die Umsetzung der Istanbul-Konvention verantwortet und die Zusammenarbeit der beteiligten Ressorts steuert, und diese mit entsprechenden Kompetenzen und Befugnissen auszustatten,
    e.      sich auf Bundesebene für einen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Schutzeinrichtung unabhängig von Einkommenssituation, Aufenthaltsstatus, gesundheitlicher Verfassung und Alter der Kinder einzusetzen, der gleichzeitig eine verlässliche Finanzierung der Frauenhäuser durch Bund, Land und Kommunen sowie allgemeine Mindeststandards regelt.

Begründung

Von Kürzungen betroffen sind die folgenden Haushaltsstellen:

  • Förderung von landesweit tätigen Migrantenorganisationen
  • Förderung der Migrationsberatung
  • Förderung einer Asylverfahrensberatung
  • Förderung der Teilhabe zugewanderter Menschen und des gesellschaftlichen Zusammenhalts
  • Zuschüsse für laufende Zwecke zur Chancengleichheit in Bildung und Arbeit von Zugewanderten
  • Förderung familienfreundlicher Infrastrukturen und
  • Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von AIDS.

In anderen Bereichen gibt es trotz steigender Bedarfe keine oder nur geringfügige Anpassungen, die den Bedarfen nicht gerecht werden. Das betrifft bspw. die folgenden Haushaltsstellen:

  • Maßnahmen für Frauen und Mädchen, die von Gewalt betroffen sind
  • Zuschüsse zur Förderung der Zentralen Beratungsstellen für Personen in besonderen sozialen Schwierigkeiten
  • Zuschüsse an Träger von unabhängigen Erwerbslosenberatungsstellen und
  • Maßnahmen zur Suchtbekämpfung.

Die professionelle und bewährte Migrationsberatung in Niedersachsen ist durch die im Haushalts-planentwurf der Landesregierung 2022/23 vorgesehene Kürzung in ihrer Existenz bedroht. Die Kritik der verschiedenen Träger an diesen Planungen ist massiv. Die Arbeit der Kooperativen Migrationsarbeit Niedersachsen (KMN), den die verschiedenen Träger in der Migrationsberatung leisten, dient nicht nur zentralen humanitären Zielen sondern insbesondere auch der Integration von Geflüchteten und Migrant*innen und damit zugleich auch dem friedlichen Miteinander der Menschen. Dies ist nun in Gefahr, obwohl die wertvolle Beratungs- und Integrationsarbeit an anderen Stellen viel Geld einspart. Der Bedarf an Integrationsarbeit nimmt entgegen der Auffassung der Landesregierung nicht unmittelbar dadurch ab, dass weniger Geflüchtete ankommen. Sondern Integration ist ein langfristiger Prozess, für den dauerhaft die nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen sind. Das aktuelle Beispiel Afghanistans unterstreicht das und zeigt, wie schnell sich die humanitäre Situation im Umfeld Europas und Deutschlands ändern kann.

In ähnlicher Weise durch Kürzungen betroffen sind die Migrantenorganisationen, die Asylverfahrensberatung, die Förderung der Teilhabe zugewanderter Menschen und des gesellschaftlichen Zusammenhalts sowie die Förderung der Chancengleichheit von Zugewanderten in Bildung und Arbeit. Auch Teilhabe und der gesellschaftliche Zusammenhalt sind aktuell überragend wichtige Werte. Finanzielle Kürzungen sind an dieser Stelle gesellschaftlich nicht zu vermitteln. Aus dem Haushaltstitel für Chancengleichheit in Bildung und Arbeit von Zugewanderten sind in der Vergangenheit sehr erfolgreiche Ansätze zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit und Teilhabe, insbesondere für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, entstanden. Auch hier besteht der Bedarf fort. Kürzungen würden soziale Folgekosten verursachen und das soziale Gefälle verstärken.

Die entsprechenden im Haushaltsentwurf der Landesregierung enthaltenen Kürzungen Im Bereich Migrationsberatung/Integration sind deshalb kontraproduktiv und sozial-, integrations- aber auch arbeitsmarktpolitisch ein großer Fehler. Diese Kürzungen dürfen nicht im Haushalt für das Jahr 2022 beschlossen werden und sind kurzfristig durch den Landtag im Rahmen der Haushaltsberatungen für 2022 und 2023 zu korrigieren.

Im Februar 2018 ist die Istanbul-Konvention in Deutschland in Kraft getreten. Ziel der Konvention ist es, Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen. Sie verlangt von den Vertragsstaaten eine ganzheitliche Gewaltschutzstrategie, die neben dem Schutz von Frauen vor Gewalt bspw. auch die gesellschaftliche Bewusstseinsbildung und die Beseitigung von Diskriminierung beinhaltet.

In Bezug auf Schutzeinrichtungen empfiehlt die Istanbul-Konvention u.a. einen Familienplatz pro 10.000 Einwohner*innen. In Niedersachsen wären demnach etwa 800 Familienplätze erforderlich. Aktuell stehen 394 Plätze zur Verfügung.

Bereits vor der Corona-Pandemie mussten die niedersächsischen Frauenhäuser vor Ort immer wieder Frauen, die von Gewalt bedroht waren, abweisen, weil sie vollständig belegt waren. Hinzu kommt eine knappe Personalausstattung, die regelmäßig zu Defiziten bei der psychosozialen Betreuung der Frauen und ihrer Kinder führt. Auch die spezialisierten Fachberatungsstellen können dem seit Jahren steigenden Beratungsaufkommen kaum noch gerecht werden. Ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik hat die Corona-Pandemie zu einer Zunahme häuslicher Gewalt geführt. Gleichzeitig ist der Zugang zum Hilfesystem seit Beginn der Pandemie deutlich erschwert und durch Hygienevorgaben können bspw. nicht alle Plätze in Schutzeinrichtungen belegt werden.

Frauenhäuser und spezialisierte Fachberatungsstellen werden über die Richtlinie über die Gewährung von Zuwendungen zur Förderung von Maßnahmen für Frauen und Mädchen, die von Gewalt betroffen sind, gefördert. Die Richtlinie läuft Ende des Jahres 2021 aus.

Der Haushaltsplanentwurf der Landesregierung für 2022 und 2023 sieht trotz der benannten Defizite de facto sogar eine indirekte Kürzung der Mittel für den Gewaltschutz vor. Zwar wird die Finanzierung von 9,2 Millionen Euro um 230.000 Euro erhöht. Diese leichte Erhöhung kann jedoch die gestiegenen Fix- und Personalkosten sowie die Mehrbedarfe durch die in den letzten Jahren zusätzlich entstandenen Frauenhausplätze nicht auffangen. Die Voraussetzungen der Istanbul-Konvention kann Niedersachsen damit nicht erfüllen.

 

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