Antrag: Für eine starke Europäische Säule sozialer Rechte

Fraktion der SPD
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

In seiner Rede vom 9. September 2015 zur Lage der Europäischen Union kündigte Kommissions­präsident Juncker die Einrichtung einer europäischen Säule sozialer Rechte (ESSR) an. Die Initiati­ve soll Teil der vertieften und faireren Wirtschafts- und Währungsunion werden. Sie zielt ab auf die Mitgliedstaaten, die dem Euro-Raum angehören, steht aber auch den übrigen Mitgliedstaaten offen.

Die Europäische Kommission legte am 26.April 2017 ihr „Sozialpaket“ vor, in dessen Zent­rum die Europäische Säule sozialer Rechte (ESSR) steht. Der endgültige Vorschlag der EU-Kommissi­on für eine Europäische Säule sozialer Rechte erfolgte auf der Grundlage der zahlreichen im Rah­men der vorangegangenen Konsultation eingegangenen Beiträge. Die ESSR sieht 20 Grundsätze zur Unterstützung fairer und gut funktionierender Arbeitsmärkte und Wohlfahrtssyste­me vor. Sie wurde als Bezugsrahmen für die Beurteilung der Leistung der teilnehmenden Mitglied­staaten in den Bereichen Beschäftigung und Soziales konzipiert, um Reformen auf nationaler Ebe­ne voranzubringen. Vor allem beim erneuerten Prozess der Konvergenz in Richtung besserer Ar­beits- und Lebensbedingungen in Europa soll sie als Orientierungsmarke dienen – in erster Linie für den Euro-Raum, aber auch für alle anderen EU-Mitgliedstaaten, die sich anschließen möchten. Un­ter drei Kategorien werden die 20 Grundsätze und Rechte formuliert

  • Chancengleichheit und Arbeitsmarktzugang
  • Faire Arbeitsmarktbedingungen
  • Angemessener und nachhaltiger Sozialschutz

Die EU-Kommission reagierte damit auf die zunehmende soziale Ungleichheit in Europa und die damit verbundene wachsende Europaskepsis vieler Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten

der Union. Zu lange haben die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten einseitig auf eine verbes­serte Wettbewerbsfähigkeit gesetzt, in kürzester Zeit Milliarden Euro mobilisiert zur Rettung sys­temrelevanter Banken, und dabei die soziale Dimension aus den Augen verloren.

Verschärft wird die schwierige soziale Lage vieler Menschen dadurch, dass sich die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt in einem epochalen Wandel befinden. Die damit einhergehenden Herausforde­rungen entscheiden mit darüber, wie sich Chancengleichheit und soziale Sicherheit künftig entwi­ckeln werden. Entscheidend prägend für die nahe Zukunft wird die Digitalisierung im Wirtschafts- und Arbeitsleben sein. Arbeit 4.0 wird erheblichen Einfluss auf die Produktion in Industrie und Handwerk, aber auch auf Teile des Dienstleistungssektors haben. Auf die Beschäftigten in den be­troffenen Branchen werden erhebliche Veränderungen zukommen. Die Auswirkungen der Digitali­sierung werden nicht nur Veränderungen in der Arbeits- und Lebenswelt nach sich ziehen, sondern sich auch auf die Gesellschaft auswirken.

Die Vorschläge der EU-Kommission bleiben hinter den Erwartungen zurück. Es fehlen konkrete und umfassende Maßnahmen für ein sozialeres Europa. Dafür sind verbindliche Regelungen auf europäischer Ebene sowie die Bereitschaft der Mitgliedschaften, sich auf gemeinsame Standards zu einigen, notwendig.

Niedersachsen übernimmt am 1. Juli 2017 den Vorsitz in der Konferenz der Europaminister. Neben der Fortführung aktueller europapolitischer Themen wird Niedersachsen während seines einjähri­gen Vorsitzes einen Schwerpunkt im Bereich „Zukunft soziales Europa“ setzen.

Der Landtag bittet die Landesregierung,

sich bei der Bundesregierung dafür einzusetzen, dass auf nationaler und europäi­scher Ebene Regelungen geschaffen werden zu

  • Mindeststandards bei Mitbestimmungsrechten, um die betriebliche Demokratie vor dem Hintergrund neuer Arbeitsstrukturen im Zusammenhang mit Arbeit 4.0 zu stärken,
  • Arbeitsvertragsmodellen , z. B. Teilzeitarbeit, befristete Arbeitsverträge, Leiharbeit etc., um faire Arbeitsbedingungen, insbesondere für Solo-Selbständige und Crowdworker, sicher zu stellen,
  • Arbeitszeitmodellen, um die Zeitautonomie / work life balance der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu gewährleisten,
  • Mindeststandards zur Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben , um insbesondere Frauen die Erwerbstätigkeit zu erleichtern.
  • Arbeitsschutz, um die Gesundheit der Beschäftigten zu sichern und zum
  • Beschäftigtendatenschutz, damit die Datensicherheit und die Privatsphäre weiter ge­schützt bleiben.
  • einer stärkeren Berücksichtigung sozialer Aspekte bei Reformempfehlungen an die Mitgliedsstaaten, z.B. im Rahmen des Europäischen Semesters.
  • einem sozialen Fortschrittsprotokoll, das der Stärkung sozialer Grundrechte gegenüber den wirtschaftlichen Freiheiten im EU-Binnenmarkt dient und den Wettbewerb zulasten von Löhnen und Arbeitsbedingungen verhindern soll.

Den Bund zu bitten, an die EU Kommission heranzutreten und diese auffordern zu prüfen, ob   

  • nationale Mindesteinkommensregelungen in der EU angemessen sind und ggf. weitere Schritte eingeleitet werden sollten, um die soziale Konvergenz in der EU zu stärken,
  • Empfehlungen von Qualitätsstandards für einzelne europäische Arbeitslosenversicherungssysteme abgegeben werden sollten, um Armut trotz Erwerbstätigkeit zu bekämpfen.

Begründung

Das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft wird im EU-Vertrag ausdrücklich genannt. Durch die so­ziale Querschnittsklausel in Artikel 9 AEUV sind im Kern bereits alle wesentlichen Elemente für ei­ne stärkere soziale Konvergenz angelegt. Diese beinhaltet u. a. den sozialen Dialog, die Bekämp­fung von sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung sowie die Förderung sozialer Gerechtigkeit. Insbesondere festzuhalten ist die Sicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Arbeitsbedingungen. Angesichts einer immer enger vernetzten Wirtschafts- und Währungsunion ist es notwendig, den Fokus bei der Gesetzgebung nicht nur auf die Wirtschafts- und Finanzpolitik zu legen. Unter Wahrung der geltenden Zuständigkeitsverteilung, insbesondere unter Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes, ist dabei die soziale Situation in den Mitgliedstaaten in gleichem Maße zu berücksichtigen.

Bei vielen Menschen in den Mitgliedstaaten ist der Eindruck entstanden, dass Privat-, Konzern- und Marktinteressen dominieren und die sozialen Auswirkungen zu wenig beachtet werden. Die Le­bensverhältnisse und sozialen Mindeststandards in den Mitgliedstaaten haben sich nicht angegli­chen. Vielmehr sind sie, nicht zuletzt als Folge der rigiden Sparpolitik der EU, teilweise sogar weiter auseinander gedriftet. Die Auffassung, notwendig sei eine marktkonforme Demokratie statt eines demokratiekonformen Marktes, hat sich als nachhaltig falsch erwiesen. Richtig ist vielmehr, dass das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell weiterhin im Mittelpunkt der Europäischen Union stehen muss. Es zielt darauf ab, Wirtschaftswachstum mit sozialer Gerechtigkeit und starken Ar­beitnehmerrechten zu verbinden.

Insbesondere vor dem Hintergrund, dass fortschreitende Digitalisierung erhebliche Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, die Produktionsprozesse / Beschäftigungsformen und auf das gesellschaftli­che Leben haben wird, ist das Instrumentarium der betrieblichen Mitbestimmung, aber auch der di­versen Arbeitszeitmodelle und -vereinbarungen anzupassen. Besonderes Augenmerk ist auf den Zugang zu sozialschutzatypischen Beschäftigungsverhältnissen zu richten. Weiter wird es erforder­lich sein, unter den geänderten Rahmenbedingungen weitreichende Maßnahmen zur Sicherheit und Gesundheit zu ergreifen.

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