Statement:Julia Willie Hamburg: „Todesopfer rechter Gewalt endlich anerkennen – Ausmaß rechter Gewalt sichtbar machen“

Es ist erschreckend, dass zivilgesellschaftliche Akteure doppelt so viele rechtsmotivierte Tötungen zählen, als staatliche Stellen anerkennen. Viele Angehörige kämpfen seit vielen Jahren für die Anerkennung der Getöteten als Opfer rechter Gewalt – es ist beschämend, dass sie auch nach Jahrzehnten nicht gehört werden.

Zur Plenardebatte zu Tagesordnungspunkt 25 „Kriterien zur Anerkennung Todesopfer rechter Gewalt anpassen - Überprüfung der offenen Fälle durch wissenschaftliche Untersuchung abschließen“ sagt Julia Willie Hamburg, Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus:

Es ist erschreckend, dass zivilgesellschaftliche Akteure doppelt so viele rechtsmotivierte Tötungen zählen, als staatliche Stellen anerkennen. Viele Angehörige kämpfen seit vielen Jahren für die Anerkennung der Getöteten als Opfer rechter Gewalt – es ist beschämend, dass sie auch nach Jahrzehnten nicht gehört werden. Wir fordern deshalb die Einrichtung einer wissenschaftlich unabhängigen Untersuchung der von der Zivilgesellschaft und von Journalist*innen aufgelisteten Todesopfer, um eine Überprüfung der bekannten Fälle vorzunehmen und rechte Morde als das anzuerkennen, was sie sind: politisch und menschenfeindlich motiviert. Der Fall des Amoklaufs von David S. im Juli 2016 in München zeigt ebenso wie die Kommission in Brandenburg, dass eine Neubewertung möglich und geboten ist.

Derzeit werden Taten von der Polizei zu Beginn des Verfahrens als politisch motiviert eingestuft und in die Statistik aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt sind das Tatmotiv und auch die Täter*innen vielfach noch nicht bekannt. Wenn wir eine valide Zahl erhalten wollen, kann eine Einstufung erst nach Beendigung des Ermittlungsverfahrens endgültig erfolgen. Alles andere ist unseriös.

Vielfach scheitert die Anerkennung an einer vermeintlichen ‚Täter-Opfer-Beziehung‘. Es ist absurd, dass ein Mord nicht als rechte Gewalt anerkannt wird, weil Täter und Opfer im gleichen Dorf gewohnt haben oder die gleiche Schule besuchten. Motive kann es mehrere geben und wenn der rechte Hintergrund einer davon ist, muss die Tat auch als solche benannt und anerkannt werden. Wir fordern deshalb, die Kriterien in einer Expertenkommission zu überprüfen und anzupassen.

Hintergrund:

Mit dem ermordeten Regierungspräsidenten Walter Lübcke, Jana L. und Kevin S., die bei dem antisemitischen Anschlag in Halle ermordet wurden, zählt die unabhängige Amadeu-Antonio-Stiftung seit dem Jahr 1990 bereits 198 Opfer rechter Gewalt in Deutschland, sowie mindesten 12 Verdachtsfälle. Nicht nur bei der Urteilsbegründung, auch bei der polizeilichen Einordnung wird der Hintergrund des Täters und dessen Szenezugehörigkeit häufig vernachlässigt. Die Bundesregierung kommt laut der Stiftung auf weitaus weniger Opfer rechter Gewalt. Sie zählt 94 Tötungsdelikte mit entsprechendem Hintergrund. Auch in Niedersachsen sind seit 1990 lediglich zwei Opfer rechter Gewalt als solche anerkannt. Acht weitere Fälle werden von der Amadeu-Antonio-Stiftung als Todesopfer rechter Gewalt eingestuft.

In einem für Niedersachsen bekanntesten Fälle, dem Tod von Mathias Knabe 1991, hat der Täter auch in der Gerichtsverhandlung seine rechte Einstellung nicht versteckt. Mehrere Zeug*innen haben benannt, dass das spätere Opfer als „Zecke“ beschimpft wurde, und der Täter losgegangen sei, um „ihn aufzumischen“. Trotzdem wird Knabe nicht als Todesopfer rechter Gewalt anerkannt, da eine Täter-Opfer-Beziehung vorliege, da sich Täter und Opfer schon bei einem früheren Termin vor Gericht begegnet seien.

Wir fordern die Neubewertung folgender Fälle:

  • Der 21-jährige Alexander Selchow starb am 1. Januar 1991. Selchow wurde in der Silvesternacht in Rosdorf von zwei 18-jährigen Skinheads niedergestochen. Diese gehörten der extrem rechten FAP (Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei) an.
  • Der Obdachlose Helmut Leja wurde am 4. Juni 1991 von einem 17-Jährigen aus der örtlichen Skinheadszene in einem Waldstück bei Kästorf erstochen. Zuvor bezeichnete der Täter ihn als "Abschaum".
  • Mathias Knabe wurde am 8. Mai 1991 nach einer Begegnung mit rechten Skinheads von ihnen über eine Bundesstraße gehetzt und dort von einem Auto erfasst. Knabe erlag ein Jahr später am 4. März 1992 seinen schweren Verletzungen.
  • Hans-Peter Zarse, selbst ein rechter Skinhead, wurde am 12. März 1993 von einem anderen Szenemitglied erstochen. Bei einer auch handgreiflich geführten Auseinandersetzung habe sich der Täter, laut Landgericht Lüneburg Anführer einer rechtsextremen Skinhead-Gruppe, „in seinem Dominanzstreben und seiner Ehre beeinträchtigt“ gefühlt.
  • Bakary Singateh alias Kolong Jamba wurde am 7. Dezember 1993 in einem Zug von einem Deutschen mit einem zwölf Zentimeter langen Messer erstochen. Der Täter hatte sich durch den Asylbewerber gestört gefühlt.
  • In der Nacht zum 10. Juli 2003 wurde Gerhard Fischhöder von einem Mann in Scharnbeck zu Tode getreten. Zuvor pöbelten Neonazis vor dem Obdachlosenheim, in dem er lebte. Der Täter soll zu der Gruppe gehört haben.
  • Jenisa war ein 8-Jähriges Mädchen, das 2007 von ihrem Stiefonkel ermordet und sexuell missbraucht worden war. Die Familie des Opfers sprach im Prozess davon, dass der Mann sich immer wieder antiziganistisch geäußert habe und deswegen den Mord begangen habe.
  • Andrea B. wurde am 31.12.2012 tot aus dem Maschsee in Hannover geborgen. Die Ex-Freundin des Täters erzählte, das Andrea B. sich über seine rechte Gesinnung lustig gemacht haben soll. Der Täter hatte im Internet rechtsradikale Musik und Verherrlichung der Taten von Anders Breivik verbreitet.
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