Rede Enno Hagenah: Große Anfrage „Zustand und Zukunft des Bahnverkehrs in Niedersachsen“

Anrede,

unsere Anfrage hat sich gelohnt. Ich möchte mich für die Fraktion wegen der sicher umfangreichen Arbeit zunächst bei den engagierten Bearbeiterinnen und Bearbeitern bedanken.

Ihre Arbeit ist für uns alle hier wertvoll, weil dadurch dringend zu beseitigende Missstände im niedersächsischen Schienenverkehr offenbar wurden und wichtige Informationen für die Verbesserung des Nahverkehrs und für die Diskussion um die Hafenhinterlandanbindung öffentlich wurden.

Die Anfrage hat sich gelohnt, obwohl – das muss ich leider auch sagen – obwohl eine bedenkliche Menge an Fragen nicht beantwortet wurde.

Insgesamt wurden 17 Fragen über Streckenauslastungen, Potenziale, Kapazitätseinschränkungen und Sanierungsbedarf nicht beantwortet, weil der Landesregierung dazu keine Informationen vorlagen. Der Informationsmangel basiert aus meiner Sicht auf einem überzogenen Wettbewerbsdenken der DB AG und einer offensichtlich unterentwickelten Aufgabenwahrnehmung durch die Landesregierung, die sich zudem häufig in ihren Antworten unkritisch die Sicht der DB AG zu Eigen macht.

Die Zahl der unbeantworteten Fragen enttäuscht uns besonders deshalb, weil sich in einem Netzzustandsbericht für die Länder Berlin und Brandenburg aus dem Jahr 2007 auf viele der von der niedersächsischen Landesregierung unbeantwortet geblieben Fragen durchaus Antworten für den dortigen Netzbetrieb befinden.

Ich möchte an dieser Stelle also ausdrücklich Kritik äußern wegen der verweigerten Antworten der DB AG, aber auch gegenüber der Landesregierung, die nicht genug insistiert hat. Zumal wir als Besteller des Nahverkehrs einer der Hauptfinanzierer des DB Niedersachsennetzes sind.

Die fehlenden Inforationen hätten uns in den nächsten Monaten und Jahren bei politischen Richtungsentscheidungen und der überzeugenden Formulierung von Forderungen an die DB AG und den Bund sehr nützlich sein können.

– Womöglich sind sie aber gerade deswegen nicht herausgegeben worden. –  Wir werden da jedenfalls weiter bohren.

Hier zeigt sich erneut, wie nötig die vollständige Trennung von Netz und Betrieb bei der DB ist, die im weiteren Verlauf der politischen Diskussionen ebenso wie regelmäßige regionalisierte Netzzustandsberichte unbedingt noch gegenüber Bund und DB durchgesetzt werden müssen. Dafür setzen wir uns mit dem zusammen mit unserer Anfrage zu beratenden beiden Änderungsanträgen auch alle hier ein. -  Leider in zwei getrennten Beschlussvorschlägen”¦.

Schade und peinlich für CDU und FDP, dass sie zum auf Fachebene zugesagten gemeinsamen Vorgehen wegen der Unterschrift der Linken unter den von uns Grünen vorgeschlagenen Text nicht mehr stehen wollten. Solche formalen Unberührbarkeitsdogmen Herr Schünemann, Herr Oesterhelweg, schwächen den Landtag und schaden der Demokratie. Solche Spielchen machen wir bei einmütigen Sachfragen nicht mit. Deshalb werden wir Ihrer fast deckungsgleichen Antragsversion nicht zustimmen, weil wir dieses Vorgehen missbilligen.

Kommen wir aber zur Anfrage und den Dingen die beantwortet wurden:

Die vorhandenen Streckenschäden bei der Bahn sind erschreckend und beeinträchtigen den Verkehr in deutlichem Ausmaß. Derzeit bestehen auf 207 km des 4.475 km langen niedersächsischen Schienennetzes, also auf 4,6%, Einschränkungen in der betrieblichen Nutzung durch Mängel am Fahrweg. Das klingt auf den ersten Blick noch wenig. Dies könnten ja z.B. einige wenige längere Teilstücke auf wenig befahrenen Nebenstrecken sein.

Die betroffenen Strecken des SPNV mit dokumentierten Schäden weisen aber zu einem erheblichen Teil Fahrgastaufkommen von über 2.000, oft sogar von 3.000 bis 5.000 Fahrgästen pro Tag auf. Zudem sind die registrierten Mängelstellen im Gleiskörper auf 108 Einzelstellen im Netz verteilt. Im Schnitt gibt es also im Niedersachsennetz rechnerisch alle 40 km eine Langsamfahrstelle mit zwangsläufig weit vorher veranlasstem Abbremsen der Züge und anschließender Beschleunigung. Was für eine Zeit- und Energieverschwendung.

Rechnet man diese Strecken vor und nach der Schadstelle mit ein, ergibt sich auf rund 10 % der Bahnstrecken in Niedersachsen eine Geschwindigkeitseinschränkung wegen ausstehender Reparaturarbeiten.

Anrede,  wäre das auf den Bundesstraßen unseres Landes ähnlich, wären sicher längst monatliche Protestprozessionen aller politischen Ebenen zum Bundesverkehrsminister unterwegs.

Bei der Bahn wurden diese Mängel dagegen bisher meist erfolgreich unter den Teppich gekehrt.

Es gibt schon Fälle, da wurde an Langsamfahrstellen die Mängel bedingte reduzierte Geschwindigkeit kurzerhand als Streckengeschwindigkeit übernommen. So kann man Missstände natürlich auch kaschieren, meine Damen und Herren.

Beim Netzerhalt besteht dringender Handlungsbedarf. Die nötige Finanzierung mit mindestens 2,5 Mrd. €/a vom Bund und ein jährlicher regionalisierter Vollzugsnachweis von der Bahn müssen, wie in den beiden Änderungsanträgen gefordert, vom Bund jetzt in der Vereinbarung mit der Bahn im Zuge der Privatisierung auf Dauer festgeschrieben werden.

Erkennbar ist in Niedersachsen auch ein großer Ausbaubedarf an Bahnhöfen und Haltepunkten. So sind an 195 der insgesamt 382 Bahnhöfe und Haltepunkte ausschließlich Nahverkehrsfahrkarten erhältlich. Über Fahrkartenautomaten im Zug verfügen die Züge der Deutschen Bahn im Gegensatz zu vielen Zügen der NE-Bahnen überhaupt nicht. Die mangelhafte Dienstleistungsorientierung bei der DB AG drückt sich also nicht nur in so abstrusen Ideen wie einer Schaltergebühr aus.

15 Stationen verfügen nicht einmal über einen Wetterschutz oder ein Wartehäuschen. Bemerkenswert finde ich, dass sich darunter ebenso wie unter den Stationen ohne Toiletten ein Teil der Bäder und touristisch bedeutenden Orte befindet. Auch hier sehen wir dringenden Ausbaubedarf, denn gerade dort, wo ältere Personen und Familien mit Kindern unterwegs sind, darf es an solchen Einrichtungen nicht fehlen. Erschreckt hat uns auch, wie viele Stationen noch keinen barrierefreien Zugang zur gesamten Verkehrsstation haben.

Das alles macht deutlich, es fehlt dem System Bahn bei uns an ausreichender Finanzierung und Qualitätskontrolle. Noch immer gibt es in Niedersachsen keinen ausreichenden Ausgleich der Kürzungen bei den Regionalisierungsmitteln. – Das ist Ihnen schon bewusst.

Indem sie die in der Antwort prognostizierte Zukunftsentwicklung im Nahverkehr bewusst niedrig schätzen, zeigen sie der Öffentlichkeit, dass sie die derzeitige finanzielle Vernachlässigung dieses Verkehrssegmentes in Niedersachsen auch in Zukunft fortsetzen wollen.

Anrede,  in diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass auch eine Aufsicht über die optimale Anpassung des Angebots des straßengebundenen ÖPNV an das Bedienungsangebot des SPNV in Niedersachsen nicht stattfindet, denn die Antwort der Landesregierung auf diese Frage lautet: "Landesweite Informationen zum Umfang der Anschlussverbindungen liegen nicht vor; eine Erhebung wäre angesichts der Vielzahl der Linien und der unterschiedlichen Angebotsdichte [”¦] mit unverhältnismäßigem Aufwand verbunden." –

Ich bitte sie. - Niemand hat erwartet, dass sie das jetzt nachzählen für unsere Anfrage. Aber eine regelmäßige Berichtspflicht der regionalen Ebene über die vorgabengerechte Umsetzung mit wenigen Stichproben zur Plausibilitätskontrolle wäre im Sinne der ÖPNV-Kunden zur Qualitätssicherung schon angemessen.

- Auch hier verschließen sie lieber die Augen nach dem Motto, was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß”¦.

Anrede,

die zunehmende Dynamik des Hafenhinterlandverkehrs, sicher die wichtigste Herausforderung des Logistikstandortes Niedersachsen in den kommenden Jahren, hat Minister Hirche bisher verschlafen. Durch die Antwort der Landesregierung wird klar, dass sie bereits anhand der deutlich angestiegenen Transportleistungen in Trassenkilometern spätestens seit dem Jahr 2004 den steigenden Kapazitätsbedarf hätte erkennen müssen. Denn nach einigermaßen gleich bleibenden Transportleistungen seit 1998 stiegen die Zahlen von 2003 auf 2004 um 6%, von 2005 auf 2006 um 9% und im folgenden Jahr sogar um 12%. Ein Zeichen dafür, dass die Straßen voll sind und neue Aufgaben dem Schienengüterverkehr zufallen.

Bis 2015 erwartet die Landesregierung nun konservativ gerechnet Zunahmen beim Hafenhinterlandverkehr aus dem Hamburger Hafen von mindestens 200%, aus Bremen von 100% und aus niedersächsischen Häfen von 50%. Wie dieses Verkehrswachstum bewältigt werden soll, konnte von der Landesregierung nicht beantwortet werden.

Unser sehr informatives Hearing zu diesem Thema hier im Landtag am vergangenen Freitag hat nicht nur für den Logistikbereich, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung um die Nordseehäfen einen riesigen ungelösten Handlungsbedarf aufgezeigt. Das aktuelle 250 Mio. € Bundesprogramm zum Ausbau der Schiene im Hafenhinterland gleicht auch nach Einschätzung von DB Netz allenfalls die Nachfragesteigerungen bis 2011 oder 2013 aus, je nachdem ob der Modal Split Straße /Schiene bei der Nachfragesteigerung nur gleich gehalten werden  soll, oder ob, angesichts der Klimaschutzziele, die Schiene einen Teil der ansonsten in vielerlei Hinsicht unverträglichen Steigerung des Transportes auf unseren Straßen aus politischen Gründen mildern soll.

Zugleich wurde klar, dass die von der Landesregierung als Lösung der Container- Transportprobleme hochgehaltene Y-Trasse selbst bei Fortschreibung der längst überholten alten Planung und günstigstem Bauverlauf frühestens 2019 fertig gestellt sein könnte. Selbst bei der irrigen Annahme das Y wäre ein entscheidender Lösungsbaustein im Güterverkehr klafft gegenüber der unaufhaltsam wachsenden Transportnachfrage aus den Häfen eine bisher nicht füllbare Transportlücke auf der Schiene zwischen 2012 und 2019. Bei konservativer Prognose geht es da um bis zu 200 oder sogar 400 Güterzüge pro Tag, die ohne kurzfristigen zusätzlichen Ausbau ab 2012 bis 2019 keinen Fahrweg durch Niedersachsen finden würden.

Da die Kapazitäten auf dem Binnenwasserweg oder der Straße so kurzfristig auch nicht erweiterbar sind, bedeutet das: Ohne ein neues erheblich höher dotiertes Schienenausbauprogramm Hafenhinterland des Bundes kommt es zum Verkehrskollaps in den Nordseehäfen und viele Reeder wären gezwungen mit dem Güterwachstum abzuwandern.

Im Hearing wurde klar, dass bisher nicht genutzte Kapazitäten vor allem auf dem niedersächsischen NE Bahnnetz mit vertretbaren Kosten noch in diesen Fristen ausbaubar wären. In den ersten Jahren kostet das noch zweistellige Millionenbeträge für die Sicherung von Bahnübergängen, für Ausweichgleise und Kurven um Kopfsituationen aufzulösen, mit der ein ausreichendes Angebot für die wachsende Nachfrage geschaffen werden könnte.

Aber schon ab 2015/2016 reichen diese kleinen Ertüchtigungen nicht mehr aus und es geht um dreistellige Millionenbeträge pro Jahr für NE Bahnen und DB Netz, um eingleisige Abschnitte zweigleisig auszubauen und Strecken zu elektrifizieren. 

Hier müssen wir gemeinsam mit den anderen Bundesländern und dem Bund schnellstmöglich zu einer Finanzierungsvereinbarung kommen. Wegen der logistischen Herausforderung für die Küstenstandorte, von deren weiterer positiver Entwicklung die ganze Republik profitiert, muss daher auch eine Mitfinanzierung des Bundes für NE Bahn Infrastruktur möglich werden. Aber auch Niedersachsen wird dafür insbesondere aus den derzeitigen EU Mitteln erhebliche Beträge beisteuern müssen. 

Um diese milliardenschwere Herausforderung stemmen zu können, gehört vorher eine ehrliche Kosten/Nutzen Analyse und ein realistischer Umsetzungszeitplan der Y-Trasse auf den Tisch. Weil das Y im Raumordnungsverfahren bisher als Solitär in das vorhandene DB Netz allein für den Hochgeschwindigkeits-Personenverkehr geplant wurde, wird es derzeit von DB Netz in wesentlichen Punkten überarbeitet (Verbreiterung der Trassen um Begegnungsverkehr von Schnellverkehr mit Container-Güterwagen zu ermöglichen und Einplanung von mindestens 2 Überholbereichen um auch Tagsüber zwischen den Schnellzügen Güterverkehr zu ermöglichen, sowie aufwändige Endanschlussverstärkung um Hannover herum und von Hamburg aus mit Zusatzgeleisen).

Damit explodieren nicht nur die Kosten, sondern auch das vollzogene Raumordnungsverfahren wird hinfällig durch diese erheblichen Veränderungen. Ein Zeitvorteil der bisherigen Y-Planung ist damit gegenüber sinnvolleren, weil kostengünstigeren und leistungsfähigeren  Alternativplanungen für das Verkehrswachstum auf der Schiene nach Ausschöpfen der Ausbaumöglichkeiten im Bestand nicht mehr gegeben.  Im Gegenteil, wer unter den veränderten Rahmenbedingungen noch länger am alten Y festhält verschenkt kostbare Zeit um die Weichen für sachgerechte und bezahlbare Lösungen für die Herausforderungen der nächsten Jahre zu stellen.

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