Antrag: Niedersachsens Justiz kindgerechter machen – Modellprojekt Childhood-Haus

 

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Kinder, die Opfer von körperlicher oder sexualisierter Gewalt werden, erleben im Rahmen des Strafverfahrens häufig multiple Belastungen. Die strafrechtliche Notwendigkeit, Einzeltaten zweifelsfrei nachzuweisen, erfordert gerichtsverwertbare Aussagen und eine genaue Dokumentation von Beweisen. Das Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden orientiert sich dabei in erster Linie an der Wahrheitsfindung und nicht am Wohlergehen der Kinder. Auch der akute Hilfebedarf kindlicher Opfer gerät dabei oft in den Hintergrund.

In sog. Childhood-Häusern werden Kinder, die Opfer von Gewalt geworden sind, in einem geschützten Umfeld multidisziplinär betreut und erhalten alle nötigen Hilfen aus einer Hand. Alle am Strafverfahren beteiligten Professionen arbeiten kooperativ zusammen, um eine möglichst optimale Versorgung der Kinder zu erreichen, ohne dabei die Notwendigkeiten der strafrechtlichen Aufklärung zu beeinträchtigen. Befragung, Untersuchung, Beweissicherung und die Vermittlung weiterer Hilfen erfolgten aufeinander abgestimmt und durch speziell qualifiziertes Personal.

Der Landtag stellt fest:

  • Niedersachsen verfügt über ein gut ausgebautes Angebot an psychosozialer Prozessbegleitung, die Opfer von Gewalttaten während des Strafverfahrens begleitet und unterstützt.
  • Audiovisuelle Vernehmungen, mit denen Mehrfachvernehmungen und eine Aussage des Opfers vor Gericht vermieden werden können, kommen bereits vielfach in Niedersachsen zum Einsatz.
  • Die Wahrheitsfindung hat bei der strafrechtlichen Aufklärung von Gewaltverbrechen an Kindern bisher Vorrang vor dem Kindeswohl. Das führt - trotz hoher Sensibilität aller Beteiligten – immer wieder zu Mehrfachvernehmungen, Aussagen vor Gericht oder dem Vorenthalten notwendiger Therapien, um die Zuverlässigkeit der kindlichen Aussage nicht zu gefährden. Für kindliche Opfer besteht dadurch ein hohes Risiko für Re-Traumatisierungen im Rahmen des Strafverfahrens.
  • Ein interdisziplinärer Handlungsansatz zur Versorgung und Betreuung von kindlichen Gewaltopfern und ihren Familien, sowie eine verbindliche Kooperation aller beteiligten Akteur*innen fehlen bisher.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. ein Childhood-Haus als koordinierende, multidisziplinäre, ambulante Anlaufstelle für kindliche Opfer von Gewalt und ihre Familien an einem geeigneten Standort in Niedersachsen modellhaft einzurichten,
  2. das Childhood-Haus dem multidisziplinären Ansatz entsprechend personell auszustatten und in geeigneter Weise in die bestehende Struktur von Hilfs- und Unterstützungsangeboten einzubetten,
  3. sich für eine Finanzierung durch die World Childhood Foundation einzusetzen und ggf. eigene Haushaltsmittel zur Kofinanzierung zur Verfügung zu stellen,
  4. das Modellprojekt wissenschaftlich begleiten zu lassen und den Landtag über die Ergebnisse zu unterrichten.

Begründung

Das erste Childhood-Haus in Europa entstand in den 1990er Jahren in Skandinavien, in Deutschland eröffnete das erste Haus 2018 in Leipzig. Auch in Heidelberg, Berlin, Düsseldorf und Ortenau sind mittlerweile mit Unterstützung der World Childhood Foundation Childhood Häuser eingerichtet worden, ein weiteres ist in Hamburg in Planung. Die Stiftung ist bestrebt, in jedem Bundesland mindestens ein Childhood Haus zu eröffnen.

Auch der Unabhängige Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs hält Childhood Häuser für geeignet, um eine optimale Betreuung von Kindern im Strafverfahren zu gewährleisten und ihnen frühzeitig therapeutische Unterstützung zu ermöglichen.[1]

Ein Gewaltverbrechen an Kindern stellt für die ganze Familie eine Extremsituation dar. Ein umfassendes Unterstützungsangebot, das die strafrechtliche Aufklärung, therapeutische Angebote, Leistungen der Jugendhilfe und weitere Hilfen umfasst, kann dazu beitragen, die Tat zu bewältigen und Folgeschäden zu reduzieren. Trotz hoher Sensibilität der Ermittlungsbehörden und verschiedener Angebote für kindliche Opfer fehlt es in Niedersachsen bisher an einem integrierten Handlungsansatz und an verbindlicher Kooperation aller beteiligten Professionen im Sinne der Kinder. Diese Lücke können Childhood Häuser als ganzheitliches Angebot schließen.

[1] vgl. https://www.childhood-haus.de/wp-content/uploads/2018/09/Positionspapier_UBSKM_Kinder_in_Verfahren_Sept2016.pdf

 

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