Antrag: Kinderarmut strukturell entgegenwirken: Familienleistungen reformieren und Teilhabe sicherstellen

Fraktion der SPD                                                                       Hannover, den 09.08.2016
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Der Landtag stellt fest:

Obwohl der Staat jährlich einen dreistelligen Milliardenbetrag für Familienleistungen aufwendet, lebt bundesweit jedes fünfte Kind in Armut, etwa jedes Sechste ist von SGB II-Leistungen (Hartz IV) abhängig. Auch in Niedersachsen sind demnach über 180.000 Kinder von Armut bedroht oder betroffen, vor allem Kinder aus Familien ohne Erwerbseinkommen oder mit Migrationshintergrund. Gut die Hälfte der Kinder stammt zudem aus Ein-Eltern-Haushalten. Arme und von Armut bedrohte Kinder erfahren materielle, kulturelle, gesundheitliche und soziale Einschränkungen und haben deutlich schlechtere Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe.

Mit den derzeitigen Hartz IV-Regelbedarf ist eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe der Kinder nicht gewährleistet. Das 2011 eingeführte Bildungs- und Teilhabepaketes (BuT) ermöglicht Familien zwar Zuschüsse zu Schulbedarfen oder kulturellen Aktivitäten, hat jedoch insgesamt nicht zu besseren Teilhabechancen geführt.

Die Inanspruchnahme der Leistungen durch die Leistungsberechtigten hat sich in den letzten Jahren aber deutlich erhöht. Nach dem vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vom März 2013 soll das Bildungs- und Teilhabepaket einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Kinder aus ärmeren Familien bessere Bildungs- und Teilhabechancen haben. Es ist heute aber klar festzustellen, dass das Geld aus dem BuT-Paket für den tatsächlichen Bedarf nachweislich nicht ausreicht. Ein festgelegter pauschalisierter Betrag erfüllt somit nicht den tatsächlichen Bedarf.

Die Kinder- und Jugendarmut in Deutschland lässt sich mit dem Bildungs- und Teilhabepaket nicht wirklich entschärfen, ein eigener Anspruch auf Grundsicherung für Kinder bzw. eine Anpassung der Kinderregelsätze an den tatsächlichen Bedarf sind unbedingt erforderlich. Kinder müssen alle Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben und auf volle Teilhabe am sozialen Leben haben, unabhängig von der Familienform, in der sie leben, und von der Einkommenssituation ihrer Eltern.

Kinder werden darüber hinaus je nach Einkommenssituation der Eltern sehr unterschiedlich gefördert: Während Familien, die SGB II-Leistungen beziehen, faktisch nicht einmal Kindergeld in Anspruch nehmen können, weil dieses vollständig angerechnet wird, profitieren Familien mit hohem Einkommen neben dem Kindergeld auch von steuerlichen Kinderfreibeträgen.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf, sich auf Bundesebene dafür einzusetzen, dass:

  1. Kurzfristig die Mittel für das Bildungs- und Teilhabepaket sowie für weitere Teilhabeleistungen (z. B. gemeinsames Mittagessen in der Schule, Leistungen für Schulbedarf oder Lernförderung) erhöht werden, deren Beantragung weiter vereinfacht und die Inanspruchnahme diskriminierungsfrei gestaltet wird,
  2. Mittelfristig die SGB II-Regelsätze für Kinder unter Einbeziehung der Mittel des Bildungs- und Teilhabepaketes in angemessenem Umfang erhöht werden und die Anrechnung des Kindergeldes auf SGB II-Leistungen entfällt,
  3. Langfristig alle staatlichen Leistungen der Kinderförderung (u. a. Kindergeld, Kinderzuschlag, Kinderfreibetrag) sowie die SGB II-Regelsätze für Kinder zu einer einheitlichen Kindergrundsicherung zusammengeführt werden, deren Höhe dem verfassungsrechtlichen Existenzminimum entspricht und für die alle Kinder gleichermaßen anspruchsberechtigt sind.

Begründung:

Der Anteil der armen oder von Armut bedrohten Kinder in Deutschland hält sich seit Jahren auf einem gleichbleibend hohen Niveau. Armut wirkt sich auf zentrale Lebensbereiche der betroffenen Kinder aus, vor allem die Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten im schulischen und außerschulischen Bereich sind deutlich eingeschränkt. Arme Kinder müssen mit Einschränkungen bei der Grundversorgung mit Nahrung und Kleidung, in sozialen Beziehungen und gesellschaftlichen Kontexten, bei der Gesundheit und bei kultureller Teilhabe leben. Insgesamt haben arme Kinder folglich deutlich beeinträchtigte Bildungs- und Entwicklungschancen.

Insbesondere Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die Arbeitslosengeld II, Sozialgeld oder Sozialhilfe erhalten oder deren Eltern den Kinderzuschlag oder Wohngeld beziehen, haben grundsätzlich einen Rechtsanspruch auf Bildungs- und Teilhabeleistungen. Auch wer Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhält, kann einen Anspruch auf das Bildungspaket haben. Kinder haben einen Rechtsanspruch auf Bildung und Mitmachen. Sie sollen bei Sport, Musik oder Kultur dabei sein, an Schulausflügen und am gemeinsamen Mittagessen in Schule, Hort oder Kita teilnehmen. Sie bekommen das Schulmaterial, das sie brauchen, und die notwendige Lernförderung, wenn ihre Versetzung gefährdet ist. Kinder sollen gleiche Teilhabe- und Bildungschancen haben, auch wenn sie unterschiedlich aufwachsen.

Es muss nachgesteuert werden, um diesem Anspruch auch gerecht werden zu können. Familien müssen frühzeitig eine umfassende Unterstützung erhalten, um Kinderarmut zu verhindern.

Kinderarmut ist ein vielschichtiges gesellschaftliches Phänomen, dem nicht allein mit Zuschüssen für betroffene Familien begegnet werden kann. Vielmehr ist ein Systemwechsel in der Familienförderung erforderlich, damit langfristig jedes Kind unabhängig vom Einkommen seiner Eltern die gleiche finanzielle Unterstützung vom Staat erhält. Dies wäre ein wichtiger Schritt hin zu mehr Chancengerechtigkeit.

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