Antrag: Für ein Niedersächsisches Gefahrenabwehrgesetz ohne Symbolpolitik und Generalverdacht

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Niedersachsen braucht eine bürgernahe, transparente, effektive und qualifizierte Arbeit der Polizei und der Gefahrenabwehrbehörden.

Was Niedersachsen allerdings nicht braucht, sind ausufernde Überwachungsmaßnahmen wie die geplante Einführung des Staatstrojaners und der Online-Durchsuchung, die die Erlaubnis zum staatlichen Hacken sichern sollen. Auch die von der Großen Koalition in Niedersachsen geplante bis zu 74 Tage dauernde Präventivhaft, bei der Personen ohne eine Anklage inhaftiert werden, sowie die vorgesehene Verschärfung beim Demonstrationsrecht, der Ausbau von Videoüberwachung, der Einsatz von Vorhersage-Software und biometrischer Gesichtserkennung sind ein Angriff auf die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger.

Der Wettbewerb nach immer schärferen Maßnahmen zur vermeintlichen Herstellung von Sicherheit ist Symbolpolitik. Diese kann auch gefährlich sein, da sie den Menschen nur Sicherheit vorgaukelt und durch unbestimmte Rechtsbegriffe einem Missbrauch Tür und Tor für einen vollständigen Überwachungsstaat zur Kontrolle Andersdenkender öffnet.

Ein bürger- und anwendungsfreundliches neues Niedersächsisches Gefahrenabwehrgesetz muss ein Gesetz ohne Symbolpolitik oder Rechtsverschärfungen, die sich nicht erkennbar zielgerichtet auf die Abwehr von Gefahren beziehen, sein. Es muss präventiv-sicherheitsrelevante und verfassungsmäßige Maßnahmen unter Berücksichtigung der Bürgerrechte in den Vordergrund stellen.

Notwendig und überfällig ist die Berücksichtigung neuer sicherheitspolitischer Maßnahmen, die geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind, um festgestellte Defizite auch im Zusammenhang mit der Abwehr von Terror zu beheben und so die Sicherheit der Menschen in Niedersachsen tatsächlich zu verbessern.

Dazu gehören nachstehende Anforderungen an das Niedersächsische Gefahrenabwehrgesetz:

  1. anonymisierte, individuelle Kennzeichnungspflicht der Polizei insbesondere in geschlossenen Einsätzen,
  2. Erweiterung der unabhängigen Beschwerdestelle für Polizei und Bürgerinnen und Bürger und Einführung einer Polizeibeauftragten,
  3. Wegweisung, Aufenthaltsverbot und Gewahrsam bis zu 10 Tagen insbesondere zum Schutz von Opfern bei häuslicher Gewalt,
  4. klare gesetzliche Regelung im Rahmen der Ingewahrsamnahme mit höchstzulässige Dauer der Freiheitsentziehung
    • bei Verdacht auf eine terroristische Straftat bis zu zehn Tage,
    • zur Verhinderung einer unmittelbar bevorstehenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit mit Gefahr für Leib oder Leben höchstens vier Tage und
    • in den übrigen Fällen höchstens 24 Stunden,
  5. Streichung des Begriffs der „öffentlichen Ordnung“ als Schutzgut,
  6. Einführung einer Legaldefinition „Terroristische Straftat“, damit der Begriff des „terroristischen Gefährders“ unter ausschließlicher Berücksichtigung der „besonders schwerwiegenden Straftaten“ und der „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ bestimmt wird,
  7. umfassender Schutz für zeugnisverweigerungsberechtigte Personen bei Befragung und Auskunftspflichten durch Verwaltungsbehörden und Polizei mit Pflicht zur Belehrung über die Auskunftsverweigerung sowie Verwendungseingrenzung auf den Zweck der Befragung,
  8. anlassunabhängige und diskriminierende Kontrollen, wie z. B. Kontrollen in Moscheen, werden gestrichen,
  9.  gesetzliche Regelung für eine Gefährderansprache,
  10. zeitlich befristete und schriftlich angeordnete Meldeauflage für eine bestimmte Polizeidienststelle zur Gefahrenabwehr mit hoher Eingriffsschwelle,
  11. parlamentarische Kontrolle in Gewahrsamseinrichtungen der Polizei nach dem Vorbild der Befugnisse des Unterausschusses „Justizvollzug und Straffälligenhilfe“ im Landtag,
  12. keine Ausweitung der elektronischen Aufenthaltsüberwachung auf Gefährder und andere Gruppen,
  13. keine Quellen-Telekommunikationsüberwachung („Trojaner“), keine heimliche Onlinedurchsuchung, keine anlasslose Datenspeicherung,
  14. keine Ausweitung der Videoüberwachung im öffentlichen Raum (verdeckt oder offen) und keine generelle Erhebung von Daten oder Erstellung von Bewegungsprofilen mit stationären Videokameras (biometrische Gesichtserkennung durch die Anwendung intelligenter Videoüberwachung),
  15. Einsatz von sogenannten Bodycamsnur
    • in „Anhalte-Situationen“ mit Tonaufnahmen,
    • nach umfassender, ergebnisunabhängiger Auswertung,
    • Errichtung einer Treuhandstelle beim Polizeibeauftragten zur kontrollierten Einsichtnahme für Beteiligte, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte,
  16. Einführung eines Videokatasters mit folgenden Bestandteilen:
    • Erstellung eines Verzeichnisses aller den öffentlichen Raum in Niedersachsen überwachenden Videoanlagen (öffentliche und private, auch Einkaufszentren, Tankstellen etc.),
    •  regelmäßige Evaluierung und Aktualisierung des Verzeichnisses,
    •  Einführung einer klaren und effektiven Befugnisnorm zur schnellen Beschlagnahme von Videomaterial, das den öffentlichen Raum überwacht, durch die Polizei.

Begründung

Zu Nummer 1:

Mit der Einführung der anonymisierten, individuellen Kennzeichnungspflicht der Polizei geht es grundsätzlich nicht um generelles Misstrauen gegenüber den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, auch nicht um einen Generalverdacht, sondern um die Stärkung des Vertrauens in den Rechtsstaat und damit Stärkung des Vertrauens in die Polizei. Und es geht darum, in Ausnahmesituationen den Bürgerinnen und Bürgern ein demokratisches Abwehrrecht gegen den Staat zu geben, denn Anzeigen gegen Polizisten münden selten in Verurteilungen. Das haben viele Bundesländer bereits erkannt und daher eine Kennzeichnungspflicht gesetzlich verankert.

 

Zu Nummer 2:

In vielen Ländern der Europäischen Union sind unabhängige Polizeibeschwerdestellen/Polizei­beauftragte die Regel, wobei es in Deutschland bisher nur wenige gibt. Eine Forderung aus den Erkenntnissen der NSU-Untersuchungsausschüsse ist jedoch auch die Einführung von Polizeibeauftragten bzw. einem unabhängigen Beschwerdegremium in den Ländern und dem Bund. Auch hier handelt es sich nicht um Misstrauen gegenüber den Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten, sondern um Aufklärung und Transparenz sowie Verstärkung des Vertrauens in die Polizei.

Zu Nummer 3:

Die Befugnisse im Zusammenhang mit Wegweisung und Aufenthaltsverboten bei häuslicher Gewalt sollen konzentriert und ergänzt werden, um den Betroffenen einen notwendigen wirksamen Schutz zu bieten.

Zu Nummer 4:

Die Regelung zur Höchstdauer der Freiheitsentziehung aufgrund einer Ingewahrsamnahme soll künftig konkretisiert, klargestellt und an die Bedarfe angepasst werden.

Zu Nummer 5:

Der Begriff der „öffentlichen Ordnung“ wird gestrichen, weil das Schutzgut der „öffentlichen Ordnung“ für die Abwehr von Gefahren ohne praktische Bedeutung ist. Die ursprüngliche Funktion der Ergänzung einer lückenhaften Rechtsetzung ist mit der engmaschigen Durchnormierung aller Lebensbereiche überflüssig.

Zu Nummer 6:

Vor dem Hintergrund einer hohen Gefährdungslage insbesondere durch islamistische Terroranschläge nicht nur in Deutschland und Europa ist es zur klaren Abgrenzung von Befugnissen und Eingriffsnormen notwendig, eine Legaldefinition einer terroristischen Straftat in Abgrenzung zu sonstigen Straftaten zu normieren. Dabei müssen „besonders schwerwiegenden Straftaten“ und „Straftaten von erheblicher Bedeutung“ berücksichtigt werden.

Zu Nummer 7:

Sichergestellt werden muss ein umfassendes Zeugnisverweigerungsrecht mit Kernbereichsschutz bei der Datenerhebung, Datenspeicherung und Datenverwertung.

Zu Nummer 8:

Die Befugnis zur Durchführung anlassloser Kontrollen ist so einzuschränken, dass willkürliche Maßnahmen grundsätzlich unzulässig sind.

Das gleiche gilt für ein Handeln, welches auf rassistischen oder allgemeinen Kriterien wie ethnischer Zugehörigkeit, Religion und nationaler Herkunft einer Person basiert (racial profiling), wie z. B. die früheren sogenannten Moscheekontrollen.

Zu Nummer 9:

Die sogenannte Gefährderansprache und das Gefährderanschreiben werden bisher schon als Mittel der Straftatenverhütung genutzt, allerdings nur im Rahmen einer Allgemeinen Befugnis. Mit der gesetzlichen Regelung sollen Möglichkeiten und Grenzen dieser Maßnahmen klarstellend, eingrenzend gesetzlich geregelt werden, um schwere und nicht gerechtfertigte Eingriffe in das soziale Umfeld der Betroffenen zu vermeiden.

Zu Nummer 10:

Auch sogenannte Meldeauflagen werden regelmäßig im Rahmen einer Allgemeinen Befugnis von der Polizei und den Verwaltungsbehörden erteilt. Wegen des damit verbundenen Grundrechtseingriffs ist eine eigenständige gesetzliche Regelung für eine zeitlich befristete und schriftlich angeordnete Meldeauflage zur Gefahrenabwehr mit einer hohen Eingriffsschwelle notwendig.

 

Zu Nummer 11:

Der Zugang der Mitglieder des Landtags zu den Gewahrsamseinrichtungen der Polizei Niedersachsen kann auf „einfaches Verwaltungshandeln“ gestützt werden. Um sich auszuweisen, erhalten die Abgeordneten eine formlose Bestätigung, ausgestellt durch das Ministerium für Inneres und Sport.

Zu Nummer 12:

Eine sinnvolle Anwendbarkeit der elektronischen Aufenthaltsüberwachung, die sogenannte „Elektronische Fußfessel“ für „Gefährder“ besteht nicht. Die Fußfessel, selbst mit Gefährderansprache, schützt nicht sicher vor weiteren Straftaten. So können Personen mit einer elektronischen Fußfessel selbst bei umfassenden Flughafenkontrollen offensichtlich ausreisen. Auch müssen die für die Überwachung des Aufenthaltsortes erforderlichen technischen Mittel ständig in betriebsbereitem Zustand gehalten werden und deren Funktionsfähigkeit darf nicht beeinträchtigt werden. Bei „Gefährdern“, insbesondere auch aus dem islamistischen Umfeld, sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt.

Zu Nummer 13:

Eine Quellen-TKÜ ist bislang nur möglich unter Ausnutzung von Schutzlücken in Computersystemen und unter Veränderung von Computersystemen. Diese Schutzlücken müssen gegenwärtig beim Einsatz der Überwachungssoftware (Staatstrojaner) offengehalten werden, um Updates für die Staatstrojaner zu ermöglichen. Der Staat sollte sich aber nicht als Hacker betätigen, sondern dazu beitragen, Schutzlücken bei Computersystemen zu schließen, anstatt sie bewusst offenzuhalten. Das Offenhalten dieser Lücken ermöglicht es auch anderen als der Polizei, z. B. kriminellen Hackern, in die entsprechenden Computer einzudringen. Außerdem verändert der Einsatz der Staatstrojaner den Computer selbst. Der Grundrechtseingriff ist damit deutlich intensiver als bei der klassischen Telekommunikationsüberwachung.

Noch gravierender ist der Grundrechtseingriff bei einer heimlichen Onlinedurchsuchung. Durchsuchungen von Computern sind auch bislang möglich, und zwar sowohl im Rahmen einer Hausdurchsuchung als auch im Rahmen einer sonstigen Beschlagnahme. Diesen beiden Maßnahmen ist gemeinsam, dass sie zwingend offen erfolgen müssen. Bei Hausdurchsuchungen müssen sogar zwingend Zeugen hinzugezogen werden, wenn der Wohnungsinhaber nicht anwesend ist. Angesichts der Intensität des Grundrechtseingriffs ist das auch angemessen. Außerdem würde die Möglichkeit, gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen, entfallen, wenn die Maßnahme heimlich erfolgen dürfte. Heimliche Haus- und Wohnungsdurchsuchungen gab es in Deutschland zuletzt 1989 innerhalb des Regimes der früheren DDR. Die DDR-Staatssicherheit führte heimliche Haus- und Wohnungsdurchsuchungen u. a. mit dem Ziel durch, die Betroffenen zu verunsichern. Ein demokratischer Rechtsstaat sollte sich nicht solcher Methoden bedienen.

Zu Nummer 14:

Mit immer mehr Videoüberwachung im öffentlichen Raum (verdeckt oder offen) werden keine Straftaten verhindert, sie schützt weder vor Kriminalität noch vor Terror. Das zeigen auch die Erkenntnisse aus London - der Metropole mit der flächendeckendsten Videoüberwachung in Europa.

Zu Nummer 15:

Der Einsatz von Videokameras mit biometrischer Gesichtserkennung ist ein Angriff auf Bürgerrechte und die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger. Die Biometrische Identifizierung arbeitet mit Wahrscheinlichkeitsaussagen, die zu falschen Identifizierungen unschuldiger Personen führen können. Der damit verbundene Grundrechtseingriff für die Menschen ist nicht gerechtfertigt.

 

Zu Nummer 16:

Die neuesten Berichte der Pilotbetriebe in den Ländern (z. B. Nordrhein-Westfalen) zeigen, dass der Einsatz von Bodycams nicht ausgereift ist und auch nicht zur Sicherheit, sondern eher zur Unsicherheit für Polizeibeamtinnen und ‑beamte führt. Die erhoffte deeskalierende Wirkung ist nicht gegeben. Ohne eine öffentliche Auswertung und Debatte der Pilotversuche in Niedersachsen, um die deeskalierende Wirkung des Einsatzes der Bodycams feststellen zu können, ist die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage überflüssig. Zumal eine Einführung dieses Einsatzmittel nur mit der Errichtung einer Treuhandstelle beim Polizeibeauftragten zur kontrollierten Einsichtnahme für Beteiligte, Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte erfolgen kann.

Zu Nummer 17:

Statt einer Ausweitung der Videoüberwachung ist die Einführung eines Videokatasters, d. h. die Erstellung eines Verzeichnisses aller den öffentlichen Straßenraum in Niedersachsen überwachenden Videoanlagen mit regelmäßiger Evaluierung und Aktualisierung, notwendig. Sowohl die Videoüberwachung der Polizei als auch die Überwachung durch Private muss in einem Videokataster gemeldet sein, um Transparenz für die Bürgerinnen und Bürger herzustellen. Außerdem braucht die Polizei klare Befugnisnormen, um im Bedarfsfall schnell und unbürokratisch auf das entsprechende Videomaterial zugreifen zu können

 

Helge Limburg

Parlamentarischer Geschäftsführer

Zurück zum Pressearchiv